Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
sich ein Versprechen gegeben, und Mátyás hatte sich ihnen angeschlossen. In den vergangenen elf Jahren hatten Andras und Polaner, erschöpft von ihrem Tagwerk, nur mit Mühe behalten können, was sie an der École Spéciale gelernt hatten. Sie hatten sich gegenseitig Aufgaben gestellt, einander mit schwierigen Konstruktionsproblemen herausgefordert. Sie hatten sogar ein paar Abendkurse besucht, waren jedoch von der Eintönigkeit der sowjetischen Architektur so deprimiert, dass sie nicht weiter daran hatten teilnehmen wollen. New York bot andere Aussichten. Sie wussten nichts über die Ausbildungsmöglichkeiten dort, aber József hatte geschrieben, die Stadt sei voll davon. Polaner und Andras hatten sich am Abend von Polaners Abreise bei Tokajerwein ihr Versprechen gegeben.
»Wir werden als alte Männer inmitten von jungen Leuten sitzen«, hatte Andras gesagt. »Ich sehe uns dort schon büffeln.«
»Wir sind nicht alt«, sagte Polaner. »Wir sind noch keine vierzig.«
»Erinnerst du dich nicht mehr, wie anstrengend es war? Ich weiß nicht, ob ich noch so viel Durchhaltevermögen habe.«
»Was soll denn passieren?«, fragte Polaner. »Meinst du, du bekommst Nasenbluten?«
»Mit Sicherheit. Und das wird nur der Anfang sein.«
»Auf den Anfang!«, hatte Polaner gesagt, und zwei Stunden später war er mit seinem Ranzen und einem grünen Metallrohr voller Zeichnungen in die ungewisse Nacht verschwunden.
Jetzt, an diesem klaren Dezembermorgen, stand Klara neben Andras am Fenster und folgte seinem Blick zum Park und zum Fluss. Nach dem Krieg hatte sie das Unterrichten aufgegeben und sich stattdessen der Choreografie gewidmet. Die Russen waren begeistert davon, dass sie von einem Landsmann ausgebildet worden war und ihre Sprache beherrschte; unwichtig, dass ihr Lehrer ein Weißrusse gewesen war, der 1917 aus St. Petersburg geflohen war. Das Ungarische Nationalballett stellte Klara fest an, und die staatliche Zeitung lobte die Ausdruckskraft und Gradlinigkeit ihrer Arbeit. K. Lévi ist eine Choreografin im wahren sowjetischen Stil , schrieb der offizielle Ballettkritiker; und Klara, die seit Jahren die Ausreise ihrer Familie in die Vereinigten Staaten plante, saß mit der Zeitung in der Hand am Küchentisch und lachte.
»Zeit zu gehen«, sagte sie nun. »Mátyás wartet bestimmt schon.«
Andras half ihr in ihren grauen Mantel und schlang einen zimtfarbenen Schal um ihren Hals. »Du bist so schön wie immer«, sagte er und strich über ihren Ärmel. »Erinnerst du dich? In Paris hast du immer diesen roten Hut getragen. In Amerika bekommst du einen neuen.«
»So schön wie immer?«, wiederholte sie. »So weit ist es gekommen? Bin ich so alt?«
»Ewig jung«, sagte er. »Zeitlos.«
Sie trafen Mátyás an der Ecke von Pozsonyi út und Szent István körút. Zu Ehren des Anlasses hatte er sich eine rosa Nelke ins Knopfloch gesteckt, eine Geste, die sein früheres Ich heraufzubeschwören schien. Er war in Sibirien zu einem abgehärteten, geschärften Mann geworden, ein ungestümes, aggressives Leuchten strahlte aus seinen Augen. Er hatte nicht wieder zu tanzen begonnen, würde nie wieder einen Zylinder, eine weiße Krawatte oder einen Frack tragen. Der Teil von ihm, der seine Lebensfreude gerne körperlich zum Ausdruck brachte, war in Sibirien fortgeschliffen worden. Doch jetzt, am Tag der Namensänderung, eine rosa Nelke.
Klara drückte Andras’ Arm, als sie die Perczel Mór utca überquerten. »Ich habe den Fotoapparat mitgenommen«, sagte sie. »Ich hoffe, du bist heute fotogen.«
»Wie immer«, sagte Andras, der jedes Bild von sich verabscheute. Doch Mátyás richtete die Nelke in seinem Knopfloch und warf sich im Laternenlicht in Pose.
»Noch nicht«, sagte Klara. »Erst wenn wir die Pässe bekommen haben.«
Sie erreichten den grauen Monolith, in dem das Innenministerium untergebracht war – ein Gebäude, erinnerte sich Andras, das auf dem Fundament des Palastes einer berühmten Kurtisane aus dem 18. Jahrhundert errichtet worden war. Der Palast war 1944 bei der Belagerung zerstört worden, nur eine einzelne Ulme, die auf älteren Stichen des Gebäudes noch auftauchte, stand unverändert hinter dem niedrigen Eisenzaun. Andras berührte ihre Rinde, als brächte das Glück, versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, in einer Stadt zu leben, wo er nicht überall die Geister von Häusern oder Menschen entdecken würde, wo das, was er tatsächlich sah, für ihn alles war. Dann erklomm er mit Mátyás und
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