Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
wahr«, rief er und fuchtelte mit den Armen herum, als flögen ihm Vögel um den Kopf. Es war die Nachricht, dachte Andras, die erbarmungslose Mitteilung, eine kreisende Krähenschar mit Flügeln, die nach Asche rochen.
Andras kniete sich neben seinen Bruder und legte die Arme um ihn, drückte ihn an seine Brust, während Mátyás laut klagte. Er rief seinen Bruder beim Namen, als wollte er ihn an den erstaunlichen Umstand erinnern, dass zumindest er, Mátyás, noch lebte. Er hielt ihn so lange fest, bis Mátyás sich von ihm löste und in dem unbekannten Raum umsah; als sein Blick schließlich an Andras hängen blieb, waren seine Augen klar und voller Verzweiflung. Ist es wahr? schienen sie zu fragen, auch wenn er keinen Laut von sich gab. Sag es mir ehrlich: Ist es wahr?
Andras hielt Mátyás’ Blick stand. Es war kein Wort, keine Geste nötig. Er legte seinen Arm wieder um Mátyás’ Schulter, zog ihn an sich und hielt ihn fest, während sein kleiner Bruder weinte.
Es war Andras, der die ganze Nacht und die nächste Nacht und auch die darauf bei ihm saß, Andras, der ihn zum Essen zwang und der das durchgeschwitzte Bettzeug auf dem Sofa wechselte, wo Mátyás schlief. Während er das tat, spürte er erstmals, dass sich der Nebel lichtete, der ihn seit der Nachricht von Tibors Tod umschlossen hatte. Im vergangenen Monat hatte er fast vergessen, wie man in dieser Welt ein Mensch war, wie man atmete und aß und schlief und mit anderen Leuten sprach. Er hatte sich davontreiben lassen, obwohl Klara und die Kinder den Krieg und die Belagerung überlebt hatten, obwohl Polaner jeden Tag bei ihm war. Als Mátyás am dritten Abend nach seiner Rückkehr eingeschlafen war und Andras sich mit Klara ins Schlafzimmmer zurückgezogen hatte, nahm er ihre Hände in seine und bat sie um Vergebung.
»Du weißt, dass es nichts zu vergeben gibt«, sagte sie.
»Ich habe geschworen, mich um dich zu kümmern. Ich möchte dir wieder ein Ehemann sein.«
»Damit hast du nie aufgehört«, sagte sie.
Er beugte sich vor, um sie zu küssen; sie lebte, seine Klara, und sie war hier in seinen Armen. Nest meiner Kinder, dachte er und legte eine Hand auf ihren Bauch. Wiege meiner Freude. Und er erinnerte sich an sie mit der orangeroten Dahlie hinter dem Ohr, er wusste wieder, wie sich ihre Haut unter einem Film aus Badewasser anfühlte und wie es war, ihr in die Augen zu sehen und zu wissen, dass sie dasselbe dachte wie er. Und zum ersten Mal, seit er Tibors Namen auf der Liste am Bethlen Gábor tér gesehen hatte, glaubte er, dass es möglich sein konnte, auch nach diesem Jahr der Schrecken weiterzuleben; dass er in Klaras Gesicht blicken könnte, dessen Ebenen und Erhebungen er besser kannte als jede Landschaft der Welt, und so etwas wie Frieden empfinden mochte. Und er nahm sie mit ins Bett und liebte sie wie zum ersten Mal in seinem Leben.
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42.
Ein Name
DER MORGEN ANFANG DEZEMBER war frisch und blau. Vom Fenster des Hauses auf der Pozsonyi út konnte Andras eine Schlange von Schulkindern sehen, die in den Szent István Park geführt wurden – graue Wollmäntel, leuchtend rote Schals, schwarze Stiefel, deren Abdrücke ein Fischgrätmuster im Schnee hinterließen. Hinter dem Park spannte sich das marmorne Band der Donau. Noch weiter dahinter war der weiße Bug der Margareteninsel, wo Tamás und Április im Sommer am Palatinusstrand schwimmen gingen. Als er ihnen bei einem Spaziergang durch den Park im vergangenen Frühjahr erzählt hatte, dass das Schwimmbad einst für Juden verboten gewesen war, hatte Április ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen angesehen.
»Was hat Jüdischsein mit Schwimmen zu tun?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Andras und legte eine Hand in ihren Nacken, wo die kleine Goldkette schloss. Doch Tamás hatte durch den Zaun auf die Beckenanlage geschaut, die Hände an den grün gestrichenen Stangen, und dann seinem Vater in die Augen gesehen. Er wusste inzwischen, was während des Krieges mit seiner Familie geschehen war, er kannte die Geschichte seiner Onkel und Großeltern. Er war mit seinem Vater nach Konyár und Debrecen gefahren, um sich anzusehen, wo Andras aufgewachsen war und wo seine Eltern gelebt hatten; er hatte gesehen, wie sein Vater einen Stein auf die Türschwelle des Hauses in Konyár legte, wie auf ein Grab.
»Ich werde hier für die Olympischen Spiele trainieren«, sagte er. »Ich werde einen neuen Weltrekord aufstellen.«
»Ich auch«, sagte Április. »Ich stelle
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