Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Klara die Treppe und betrat die Höhle dieses Gebäudes aus Glas und Beton. Es dauerte eine Stunde, bis sich der Mann, der für Namensänderungen zuständig war, durch einen endlosen Stapel von Unterlagen gearbeitet hatte, die sämtlich dreimal gestempelt und von unsichtbaren Funktionären unterzeichnet werden mussten, bevor sie übergeben werden konnten. Dann wurde endlich ihr Name aufgerufen – ihr alter Name, zum letzten Mal –, und sie hielten die Papiere in den Händen: neue Pässe, Arbeitsausweise und Aufenthaltsbescheinigungen. Dokumente, hoffte Andras, die bald für sie ohne jeden Nutzen sein würden. Doch es war ihnen wichtig gewesen zu wissen, dass der neue Name in ungarischen Akten vermerkt war, wichtig, dass er offiziell wurde.
Draußen hatte der hohe blaue Himmel einen metallischen Grauton angenommen, und sie traten hinaus in eine Wolke aus Schnee. Klara lief die Treppe hinunter, um den Fotoapparat einzustellen, während Andras und Mátyás mit den neuen Papieren in den Händen dastanden. Andras hatte nicht damit gerechnet, dass der Anblick der Ausweise ihm Tränen in die Augen treiben würde, doch jetzt stellte er fest, dass er weinte. Endlich war es Realität geworden: ihr Gedenken, ihr Zeichen, das sie ihr ganzes Leben lang tragen und an ihre Kinder und Enkelkinder weitergeben würden.
»Hör auf«, sagte Mátyás und fuhr sich selbst mit der Rückseite des Ärmels über die Augen. »Das ändert doch nichts.«
Damit hatte er natürlich recht. Nichts würde ändern, was geschehen war – weder Trauer, weder die Zeit noch die Erinnerung oder die Vergeltung. Doch sie konnten diesen Ort nun verlassen, würden ihn in wenigen Wochen verlassen. Sie konnten einen Ozean überqueren und in einer Stadt leben, wo Április ohne die Ernsthaftigkeit heranwachsen mochte, die ihren Bruder kennzeichnete, ohne das Gefühl von Tragik, das in der Luft zu hängen schien wie der braune Staub bitumenhaltiger Kohle. Und Andras würde wieder zur Schule gehen – wenn auch nicht als der junge Mann, der mit einem Koffer und einem Stipendium in Paris angekommen war, so doch als ein Mensch, der etwas mehr von der Schönheit und Hässlichkeit der Welt wusste. Und Klara würde bei ihm sein – Klara, die nun mit wehendem dunklen Haar vor ihnen stand, die Hände erhoben, das Gesicht hinter dem Glasauge der Kamera verborgen. Andras legte einen Arm um seinen Bruder und sagte: »Fertig!« Klara zählte auf Englisch bis drei, eine wagemutige Tat im Schatten des Innenministeriums. Und dann fing sie sie ein, die zwei Männer auf der Treppe: Andras und Mátyás Tibor.
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Epilog
WENN SIE IM FRÜHJAHR NACHMITTAGS kein Fußballtraining hatte, schwänzte sie öfter ihre letzte Stunde – Orchesterprobe – und fuhr mit der 6 aus dem Zentrum heraus zum Gebäude ihres Großvaters. So nannte sie es bei sich, sein Gebäude, obwohl er nicht dort wohnte und es ihm auch nicht gehörte. Es war ein vierstöckiger Bau, der in einem Winkel zur Straße stand; die Fassade bestand aus Hunderten kleiner gläserner Rechtecke in Stahlrahmen, die in einer radikal asymmetrischen Bewegung himmelwärts strebten, wie ein emporschießender japanischer Raumteiler. Schlanke Birken wuchsen in dem Trapez zwischen Gebäude und Bürgersteig. Auf dem marmornen Sturz über der Tür stand Amos Museum of Contemporary Art ; der Name ihres Großvaters war in den Grundstein gemeißelt, darüber das Wort Architekt . In dem Gebäude war eine kleine Sammlung von Gemälden, Skulpturen und Fotografien untergebracht, die sie sich schon tausendmal angesehen hatte. In dem mittig angelegten Hof war ein Café, wo sie sich ihren Kaffee immer schwarz bestellte. Mit dreizehn, fand sie, sei sie schon beinahe erwachsen. Sie saß dort gern an einem Tisch und schrieb Briefe an ihren Bruder an der Brown University oder an ihre Freundinnen aus dem Sommerlager in den Berkshires. Stundenlang konnte sie dort sitzen, bis kurz vorm Abendessen, dann musste sie sich immer beeilen, um den Express zu erwischen, damit sie zurück in der Wohnung war, bevor ihre Eltern von der Arbeit heimkehrten.
Ihre Großeltern wohnten nicht in der Stadt. Sie lebten im Norden des Bundesstaates von New York, an derselben Straße wie ihr Großonkel und fünf Meilen entfernt von dem Mann, den sie Onkel nannte, obwohl er eigentlich der Freund ihres Großvaters war. Manchmal fuhr sie am Wochenende zu Besuch hin. Drei Stunden im Zug, die schnell vergingen, wenn man einen Fensterplatz hatte. Ihr Großvater hatte
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