Die unsichtbare Handschrift
verließ er das enge Kellergewölbe, das nur unter einem schmalen Streifen des Wohnhauses in den Erdboden eingetieft war, und kehrte erschöpft zurück in die Stube. Esther saß wieder auf ihrem Lehnstuhl und blickte zu ihm auf, als er eintrat.
»Nun will ich mich ein wenig ausruhen«, sagte er, ließ sich auf den Lehnstuhl neben dem ihren fallen, legte seine Hand auf ihren Arm und schloss die Augen.
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Lübeck im September 2011 – Christa Bauer
S ie bummelten an der Obertrave entlang. Es war ein milder Frühherbstabend mit einer untergehenden Sonne, die Lübecks weiße Kaufmannshäuser in goldenes Licht tauchte.
»Lübeck ist echt schön«, stellte Ulrich fest.
»Das ist ja wohl nichts Neues.« Christa fuhr sich mit einer Hand durch das braune Haar.
Er knuffte sie in die Seite. »Jetzt sei doch nicht immer so ruppig!«
»Das war doch nicht ruppig.«
»Nee, aber auch nicht gerade romantisch.«
»Was verstehst du denn bitte von Romantik?« Sie schielte ihn von der Seite an.
»He, ich ben ene kölsche Jung! Das sagt doch wohl schon alles. Wir haben das Rheinufer, und wir haben ein Schokoladenmuseum. Wie soll ich da bitte nichts von Romantik verstehen?«
Er schenkte ihr seinen Hundeblick, dass ihr das Herz aufging. Sie mochte ihn wirklich sehr. Schade, dass er nicht weiter nördlich wohnt, dachte sie. Es wäre schön, sich öfter sehen zu können. Das sagte sie allerdings nicht.
Stattdessen neigte sie den Kopf zur Seite und stellte ungläubig fest: »Du findest Schokolade romantisch.«
»Ich habe dir bei unserem ersten Treffen gezeigt, wo das Museum steht, schon vergessen? Die Lage ist romantisch. Außerdem ist Schokolade total erotisch.« Er schnupperte. »Allein der Duft oder der Anblick flüssiger Schokolade. Vielleicht fehlt dir ja die Phantasie, aber ich kann mir eine Menge netter Dinge vorstellen, die man damit anstellen kann.«
»Ferkel!«
»Wieso, das ist doch jetzt wohl eindeutig deine Phantasie. Ich habe mir nichts Ferkeliges vorgestellt, sondern etwas ganz Schönes.«
»Schon klar! Waren wir nicht gerade bei Romantik? Du aber bist bei Erotik, und das entspricht genau dem, was ich über kölsche Jungs gelesen habe. Sie denken immer nur an Sex.«
»Immer nur stimmt nicht.« Er grinste frech. »Die Barkassenfahrt war übrigens auch romantisch.«
»Stimmt.«
»Dann sind wir uns ja ausnahmsweise mal einig.«
»Darauf müssen wir anstoßen.«
Sie schlenderten in Richtung Holstenhafen, vorbei an den Salzspeichern und dem Holstentor, und bogen in die Fischstraße ein.
Als sie das Lokal in der Fleischhauerstraße erreicht hatten, stichelte er: »Gewonnen! Ich wäre jede Wette eingegangen, dass du mich hierherschleppst. Sag mal, du bist doch nicht etwa konservativ?«
»Bitte? Ist man in Köln konservativ, wenn man eine Stammkneipe hat?« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Moment mal, was heißt überhaupt, dass ich dich hierherschleppe? Du musst nicht mit mir einkehren, kannst gerne weiter durch die Stadt latschen.« Sie zog eine gespielt beleidigte Miene und sagte betont beiläufig: »Ich wollte dir zwar gerade etwas wirklich Romantisches zeigen, aber wenn es dich nicht interessiert …«
»Da drinnen?«
Sie nickte. »Da drinnen!«
»Na dann, ich kann’s kaum erwarten.«
Im Kamin brannte schon ein Feuer, obwohl es draußen wirklich noch sehr warm war.
»Hallo, Costas«, grüßten sie wie aus einem Mund und steuerten die Treppe nach oben an.
»Ah, Christa, wie schön! Und Sie sind auch mal wieder da.« Er schüttelte beiden die Hand.
»Ist der Raum frei? Ich will ihm nur kurz das Pergament zeigen.«
»Ja, ja, gehen Sie nur. Der Saal ist zwar reserviert, aber erst in einer Stunde.«
»Danke.«
Sie ging vorweg und führte Ulrich zu der Urkunde, die ihr so viel bedeutete.
»Voilà!«
»Toll, hätte ich mir ja denken können, dass du so’n olles Blatt romantisch findest.« An seinem Grinsen konnte sie sehen, dass er sie nur ärgern wollte. Na warte!
»Nicht das olle Blatt, wie du es nennst, der Inhalt ist es. Ich wette, wenn du es gelesen hast, musst du mir recht geben.«
Er verzog für einen kurzen Moment irritiert das Gesicht und sah genauer hin.
»Witzig! Das kann doch kein Mensch lesen.«
»Ich schon. Und wenn du schön brav bist, lese ich es dir sogar vor. Das heißt, ich lese dir die Übersetzung vor.« Sie fischte eine Kopie aus ihrer Tasche, auf der ihre Übersetzung des entschlüsselten Textes stand. Sie hatte auf eine Gelegenheit gewartet, sie ihm zu
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