Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
das Tier gewann in dem zermarterten Körper die Oberhand. Wieder auf allen vieren sah er uns an. Fletschte warnend die Zähne.
»Ich denke«, sagte ich zu meiner Begleiterin, »wir sollten ihm folgen.«
Offenbar verstand David diese Worte.
Der große Kopf des Werwolfs nickte.
Flankiert vom Rest des Rudels ließen wir uns aus Kensington Gardens hinausführen. Emily ging dicht neben mir, und fast schon befürchtete ich, sie wolle meine Hand ergreifen. Als wir das Albert Memorial am Rand des Parks erreichten, warf Emily einen Blick nach Osten, hinüber zur City von London, wo die mächtige Kuppel der alten Kathedrale hinter einem Vorhang aus Schnee auftauchte. Aufgeregt zupfte das Mädchen an meinem Mantel. Die Laterne von St. Paul’s flackerte nicht mehr. Nein, sie war erloschen.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Emily bang.
»Ich weiß es nicht«, gab ich zur Antwort.
Uns blieb nichts anderes übrig, als uns von den Wölfen zur Royal Albert Hall führen zu lassen und zu hoffen, dass sich die Dinge zum Guten wenden würden. Wie in den Geschichten, die wir als Kinder gehört hatten. An die wir geglaubt hatten. Damals. Bevor die gierige Welt uns verschlungen hatte.
Kapitel 9
Jenseits der Royal Albert Hall
Auf dem Weg aus Kensington Gardens wurden wir der typischen weißen Häuser dieser Gegend gewahr; jene eleganten Häuser mit ihren vielen Säulenportalen, hinter denen sich nur allzu häufig die Botschafter ferner Länder verbargen.
Die Wölfe hatten uns dorthin geleitet, und David, der Führer des Rudels, hatte keinerlei Anstalten mehr gemacht, erneut in die menschliche Gestalt zu wechseln. Ich erklärte Emily hinter vorgehaltener Hand, was nebenbei bemerkt mit missbilligendem Knurren von den Wölfen quittiert wurde, dass Lykanthropen durchaus dazu in der Lage sind, ihre Gestalt nach Belieben und eigenem Gutdünken zu ändern. Keineswegs sind sie, wie es uns die alten Geschichten Glauben machen wollen, allein vom Licht des vollen Mondes abhängig. Etwas weitaus Abgründigeres bestimmt ihren Lebenswandel.
Davon abgesehen war für uns von Relevanz, dass die Wölfe sich nicht mit der Absicht trugen, uns ein Haar zu krümmen. Die Gestalten, die uns flankierten, trotteten mürrisch und wachsam mit vor Speichel triefenden Lefzen durch die Kälte, die den zottigen Wesen nichts anzuhaben vermochte.
»Warum schickt uns der Lordkanzler eine Eskorte?«
Ich sah das Kind an.
»Keine unbegründete Frage.«
»Die Sie mir beantworten werden?«
Ich suchte in der Dunkelheit, die in den Zwischenräumen der Häuser nistete, nach Bewegungen, die nicht dorthin gehörten. Nach Schatten, die sich anschickten, nach uns zu greifen. Doch sah ich nichts dergleichen.
»Die Wölfe sind unruhig.« Die nüchterne Feststellung eines Kindes, das eigentlich gar kein Kind mehr war.
»Sie haben Recht.«
Warum hatte ich das nicht schon früher bemerkt?
Für erfahrene Jäger, die sich im geschlossenen Rudel fortbewegten, waren die Wölfe sogar außerordentlich unruhig.
Überaus wachsam.
Als erwarteten sie etwas.
»Das gefällt mir nicht!«
Emily warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Mir noch viel weniger.«
David, der Leitwolf, heulte lang gezogen.
Alle hielten inne und lauschten.
Etwas in der Ferne, die nicht mehr ganz so fern schien, beantwortete das Heulen.
»Sieht so aus«, mutmaßte ich, »als wären wir bald da.«
Wütend und ungeduldig blitzten die Augen der Bestie neben uns auf und geboten uns zu schweigen.
Ein ungutes Gefühl beschlich sich meiner.
Emily, die näher an mich herangetreten war, schien ebenso zu empfinden.
»Wittgenstein?«
»Psst!«, machte ich nur.
Etwas näherte sich uns.
»Ich spüre es.« Sie dachte gar nicht daran, den Mund zu halten. Typisch Emily Laing.
»Was spüren Sie?«
»Das Gleiche wie unten in der Region.«
Der Schwindel, der Emily kurz vor dem Abgrund ergriffen hatte.
»Sehen Sie es?«
Angestrengt verzog sie das Gesicht unter der dunklen Mütze und zupfte sich an der Strähne, die ihr über das Mondsteinauge fiel. Ja, sie sah es. Klar und deutlich. Spähte durch die Schatten hindurch, die die goldenen Skulpturen und spitzen Türme des prachtvollen Albert Memorials in die Kensington Gore Road und zwischen die Gerippe der Bäume auf dem schmalen Streifen zwischen Straße und Albert Hall Mansions warfen. Emily spürte das tumbe Bewusstsein einer Kreatur, die sich dort versteckte. Die eine Gruppe von Werwölfen beobachtete, in deren Mitte sich ihr Mentor und sie selbst
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