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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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nur wenige.
    Keinen Augenblick zu früh war ich in Manderley Manor eingetroffen. Fortwährend hatte die alte Frau Emily mit Fragen malträtiert. Sie aufgefordert, ihre Trickstereigenschaften einzusetzen und endlich herauszufinden, wo Mara sich befand. Als hätte sie dies nicht ohnehin getan, wäre es nur in ihrer Macht gestanden. Denn Mara war offenbar nicht bei Bewusstsein. Nur so konnte sich Emily erklären, dass sie keinen Zugang zu den Gedanken ihrer Schwester fand. Entfernung, das hatte sie in der Vergangenheit gelernt, spielte diesbezüglich keine Rolle. Schon zuvor hatte sie sich in Mara hineinversetzen können, selbst wenn Meilen zwischen ihnen gelegen hatten.
    Höchst unsanft hatte Mylady Manderley ihre Enkelin an den Schultern gepackt und mit aller Kraft geschüttelt. Als hätte das etwas genützt. Verzweifelt hatte sich Emily in diesem Moment nur gefragt, wie sie das Anwesen schnellstmöglich würde verlassen können.
    Miss Anderson hatte die ganze Zeit über mit einem Grabesgesicht im Raum gestanden und sich in Betroffenheit geübt.
    »Warum, in aller Welt«, fragte sich Emily selbst, »hat sie mir das alles nur erzählt?«
    »Diese Frage«, erwiderte ich ihr, »wird Ihnen nur Mylady Manderley beantworten können.«
    Was hätte ich ihr auch anderes sagen können? Die Motivation der alten Frau lag auch für mich im Dunkeln. Mara wollte nicht sprechen, und vielleicht hatte Mylady Emily dazu auserkoren, als Sprachrohr zwischen ihr und dem Kind zu dienen. Die Zeit, dessen war ich mir sicher, würde alle Antworten bringen.
    »Glauben Sie, dass die Ratten ein falsches Spiel mit uns getrieben haben?«, fragte Emily mit einem Mal, als wir gerade die Serpentine Road inmitten des Parks überquert hatten. Der kleine, künstlich angelegte See lag zwischen diesem Teil des Parks und Kensington Gardens. Eine dünne Eisschicht hatte sich auf dem Wasser gebildet, und der Anblick ließ mich frösteln.
    »Nicht Mylady Hampstead«, sagte ich bestimmt.
    Dachte daran, wie Mylady mich in dem stinkenden Haufen Unrat gefunden hatte, damals, vor so langer Zeit, dass es schon nicht mehr wahr zu sein schien.
    Emily hatte meinen Blick bemerkt. »Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?«
    »Fragen Sie nicht.«
    Und dann erzählte ich es ihr doch.
    »Der Gedanke, dass Sie einmal jung gewesen sind«, sagte Emily unerwartet, »ist irgendwie seltsam.«
    Mit hochgezogener Augenbraue musterte ich sie.
    »So war das nicht gemeint«, verbesserte sie sich hastig.
    »Sondern?«
    »Dass sie einmal ein Junge gewesen sind, dem die Welt ganz fremd und kalt vorgekommen ist.«
    »Die Kindheit ist ein Ort voller Schatten«, gab ich zur Antwort, »und London war niemals ein Ort für Kinder.« Trotzdem hatte Mylady Hampstead mich hierher gebracht. »Kinder«, stellte ich fest, »fühlen sich nun einmal einsam.« Vielleicht ist das so, weil sie die Welt so sehen, wie sie wirklich ist.
    Emily wusste sehr gut, wie das gemeint war.
    Vor uns tauchte die Bronzestatue des Jungen auf, denn wir hatten jene Stelle in Kensington Gardens erreicht, zu der es die Kinder Londons allzeit hinzieht. Überrascht, dass es auch uns in eben jenem Augenblick an eben jene Stelle verschlagen hatte, starrte Emily das Abbild des Jungen an, der eine Flöte in der Hand hielt. Die Figur sah aus, als würde sie auf einem schmalen Grat balancieren, kunstvoll und selbstsicher. Ein bronzefarbenes Denkmal für die Schöpfung Master Barries.
    Alle Kinder, außer einem, werden erwachsen
, dachte Emily.
    »Ich war ganz klein«, sagte sie, »als ich das Buch zum ersten Mal in Händen hielt.«
    Peter Pan
.
    Sie entsann sich. Einen bunten Schutzumschlag hatte das Buch besessen und, nein, sie hatte nicht selbst darin gelesen, weil sie noch zu jung und Buchstaben unleserliches Gekritzel für sie gewesen waren; eines der älteren Kinder hatte den anderen eines Abends daraus vorgelesen. Emily erinnerte sich gut an sie. Ein Mädchen mit langen, blonden Zöpfen, das immer die Schlüssel zu den Schlafsälen verlegt hatte und andauernd in Panik an allen möglichen Stellen im Waisenhaus danach suchte. Caro, erinnerte sich Emily ihres Namens. Caroline. Andächtig hatten die in der Schlafkammer anwesenden Kinder auf ihren Betten gesessen, während ihre Füße über dem Boden baumelten und die Hände unruhig die Laken kneteten. Und hatten Carolines Stimme gelauscht, die die Worte für sie aus den Buchstaben heraufbeschworen hatte. Noch gut konnte sich Emily an die ersten Zeilen des Buches erinnern.
    Alle

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