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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Kinder, außer einem, werden erwachsen.
    »Ich war sehr jung«, sagte sie und klang dabei ganz abgeklärt, »als mir zum ersten Mal aus dem Buch vorgelesen wurde.«
    »Und ich war sehr jung«, antwortete ich, »als Peter Pan nicht mehr als eine Idee im Geiste James Barries war.«
    Emily starrte mich an.
    »Sie haben schon viel erlebt.«
    »Wer hat das nicht?«
    Alle Kinder außer uns, dachte Emily mit einem Mal, waren einst richtige Kinder. Aurora und sie waren von Anfang an verlorene Kinder gewesen. Doch galt das nicht für alle im Waisenhaus von Rotherhithe? Verlorene Kinder, die niemand hatte wiederfinden wollen? Die des Nachts still in ihre Kissen geweint und nach einiger Zeit nicht einmal mehr ihren Träumen geglaubt hatten? Der Reverend, dessen Schicksal Emily nicht einmal mit Genugtuung erfüllt hatte, hatte sie alle viel zu früh zu kleinen Erwachsenen gemacht. Sie hatte kein Mitleid verspürt, als ich ihr davon berichtet hatte, was die Nekir mit dem Reverend angestellt hatten. Es war ihr einfach nur egal gewesen. Nein, eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass ihm etwas Derartiges widerfahren würde. Damit gerechnet oder darauf gehofft. Machte das einen Unterschied? Darauf gehofft, dass ihm Gerechtigkeit widerfahren würde, wie immer diese auch aussehen mochte?
    »Jeden ereilt die Bestimmung, die ihm zuteil werden soll«, hatte Mylady Hampstead einst gesagt.
    Das Heulen ließ uns zusammenzucken.
    Unwillkürlich.
    Blue Moon
, erinnerte ich mich der Melodie. Und des Films.
    Es war ein lang gezogenes, gutturales Heulen, und Emily kannte dieses Geräusch nur allzu gut. Sie hatte es vernommen, als sie aus dem Waisenhaus geflüchtet war und sich schlafend auf der Bank in der U-Bahn wiedergefunden hatte. Und später dann, als sie mit Aurora im Regent’s Park auf Lucia del Fuego getroffen war. Als die Jägerin sie vor den anstürmenden Wesen gerettet hatte.
    Ihr gesundes Auge spähte in die Dunkelheit vor uns und hinter uns. Der volle Mond, den die Kreaturen anheulten, spiegelte sich in des Mädchens anderem Auge.
    »Wölfe!«
    Nur dieses eine Wort. Eine Feststellung, so leise dahingehaucht, als könnte sie, laut ausgesprochen, Schlimmeres herbeirufen.
    Ein voller Mond stand am Himmel.
    Doch war dies nicht einmal entscheidend. Die Schergen Kensingtons konnten sich jederzeit ihrer wölfischen Natur hingeben.
    »Dort!«
    Ich folgte Emilys Zeigefinger.
    Im Licht der Laternen sahen wir sie.
    Werwölfe, sieben an der Zahl.
    Sie sprangen durch den tiefen Schnee und benutzten dabei wahlweise zwei oder vier Beine. Einige unter ihnen wirkten wie große Menschen, die seltsam gekrümmt auf zwei Beinen liefen. Andere waren riesigen Hunden ähnlich, zottelig und die Lefzen hochgezogen, sodass die Reißzähne im Mondlicht blitzten. Allesamt kamen sie mit erschreckender Geschwindigkeit auf uns zugerannt.
    »Was sollen wir jetzt machen?«
    Bevor ich den Mund öffnen konnte, fügte sie warnend hinzu: »Sagen Sie es bloß nicht!«
    »Emily«, begann ich, hielt inne, sah zu den auf uns zustürmenden Wölfen und entschied mich dann für das Übliche: »Fragen Sie nicht.« Man sollte den Humor nicht verlieren. Auch nicht in ausweglosen Situationen.
    Der eisige Wind trug lautes Knurren an unsere Ohren.
    Erneut sah ich mich um.
    Auf offenem Feld standen wir. Keine Zuflucht weit und breit. Auf einen der Bäume zu klettern wäre kaum von Nutzen. Werwölfe sind gute Kletterer, und was immer dieses Rudel vorhatte, das uns als Beute auserkoren hatte, es würde kaum von seinem Ziel ablassen, nur weil die Opfer auf einen Baum kletterten. Ich selbst trug keinerlei Waffen bei mir. Zwei Qumrankugeln, ja, aber selbst die wären kaum eine Hilfe gegen diese Überzahl.
    Blieb einzig und allein die Gabe, die mich als Trickster kennzeichnete.
    »Treten Sie hinter mich«, riet ich Emily.
    Ohne Widerrede leistete mir das Mädchen Folge.
    Die Werwölfe hielten die Schnauzen in den Wind. Das Rudel teilte sich und nahm uns in die Zange. Dann verlangsamten sie ihr Lauftempo und blieben schließlich stehen. Heulten laut und knurrten. Speichel troff von den schwarzen Lefzen. Die spitzen Ohren waren aufgestellt und die Nackenhaare erhoben. Die Muskelpakete, die sich während der schmerzhaften Verwandlung bildeten, zeichneten sich deutlich unter dem dichten Fell der Kreaturen ab.
    Ich konzentrierte mich.
    Dachte an das Lied und suchte die Melodie.
    Blue Moon, I saw you standing alone.
    Emily stand dicht hinter mir.
    Lugte an meinem Mantel vorbei zu den sieben

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