Die verborgenen Bande des Herzens
muss ich zwangsläufig daran denken, wie er sie im Arm gehalten hat. Ich will, dass er geht. Ich fühle mich weniger einsam, wenn ich allein bin.
Alex bleibt demonstrativ vor Stevies ausgestreckten Beinen stehen, obwohl er einfach um sie herumgehen könnte. Ich hasse es, wenn er so ist, wenn er eine Konfrontation erzwingt, wo er sie vermeiden könnte. Langsam, ganz langsam verändert Stevie seine Sitzhaltung, zieht die Beine ein klein wenig an. Immer noch kauend vermeidet er demonstrativ, Alex anzusehen.
»Wird es wieder gut mit ihr?«, fragt Stevie und deutet mit dem Kopf zu Lilys Bett, nachdem Alex das Zimmer verlassen hat.
»Ich weiß es nicht, mein Sohn.«
Stevie gibt mir mit einem leichten Nicken des Kopfes zu verstehen, dass er meine Antwort registriert hat, und verfällt dann in Schweigen.
»Was verpasst du denn heute Nachmittag alles in der Schule?«, frage ich schließlich.
Steve schaut auf seine Armbanduhr. »Jetzt gerade Französisch. Und dann Chemie.«
»Vielleicht solltest du wieder hingehen, jetzt, wo du sie gesehen hast. Der Arzt meint, ihr Zustand ist nun stabil. Hier kannst du eigentlich nicht wirklich was für sie tun.«
Er nimmt den Kopf zurück und lehnt sich gegen die Wand.
»Ich will nicht, dass du noch mehr Ärger kriegst«, setze ich hinzu.
»Ich krieg schon keinen Ärger.«
»Du und Garry, habt ihr jetzt den Fahrradunterstand fertig gestrichen?«
»Ja.«
Er zieht die Brauen zusammen, unwirsch, weil ich wieder davon angefangen habe. Stevie mag es nicht, wenn er an etwas erinnert wird, wo er einen Fehler gemacht hat. In dieser Hinsicht verhält er sich ein wenig wie Alex. Stevie wurde dabei erwischt, wie er zusammen mit seinem Kumpel Garry den Fahrradunterstand der Schule mit Graffiti besprüht hat. Stevie erklärte, es sei urban art. Mr Martin, der Direktor, hat offenbar keine Ahnung von » urban art «, denn er erklärte, es handle sich schlichtweg um Vandalismus. Ich wollte von Stevie wissen, worin denn der Unterschied bestehe zwischen urban art und Vandalismus, und Stevie gab mir zur Antwort, die kleinen grauen Zellen. Grips. Mr Martin bot den beiden Jungen an, sie könnten den Unterstand in ihrer Freizeit neu streichen, andernfalls würde er die Angelegenheit der Polizei melden. Ich fand Mr Martins Angebot ziemlich einleuchtend und vernünftig, aber Stevie meinte, das sei mal wieder typisch für den faschistischen kleinen Scheißer.
»Ist Mr Martin zufrieden mit eurer Arbeit?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Hat er nichts gesagt?«
Stevie steht auf. »Ich fahr noch mal zur Schule«, verkündet er, ohne mich anzusehen. Mir ist klar, dass er aufbricht, um eine Runde durch die Stadt zu drehen.
»Stevie …«
»Bis später.«
Die Tür fällt krachend hinter ihm ins Schloss.
Lily rührt sich leise, als reagiere sie auf den Lärm. Ich hebe die Hand, streiche mit einem Finger über ihre Wange. Ihre Augen öffnen und schließen sich sofort wieder. Ihr linkes Auge hängt in einem grotesken Winkel nach unten. Die Ärzte können das volle Ausmaß der Schädigung noch nicht ermessen, aber wahrscheinlich wird sie Hilfe brauchen, um wieder sprechen zu können. Sie wird Hilfe brauchen beim Gehen. Beim Essen. Beim Anziehen. Als sie die Augen wieder aufschlägt und mich ansieht, sehe ich auf einmal ganz klar, wie die Zukunft sein wird. Ihr Blick drückt kein Erkennen aus, im Gegenteil, ich sehe Verwirrtheit, eine gewisse Teilnahmslosigkeit. Sie weiß nicht einmal, wer ich bin. Andererseits, wer weiß das denn? Wer in Gottes Namen weiß überhaupt, wer ich bin? Plötzlich spüre ich, wie etwas in mir drinnen entzweigeht, wie ein Gummiband zerreißt, das überdehnt wurde. Ich stehe auf. Behutsam streiche ich Lily das Haar aus dem Gesicht.
»Leb wohl, Mum«, flüstere ich und beuge mich hinunter und gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Sie sagt nichts, aber ich spüre, dass sie plötzlich ganz wach ist, während ich zur Tür gehe. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, ihr Blick folgt mir. Ich drehe mich abrupt zu ihr um, mustere sie, als würde ich sie bei etwas ertappen wollen, und sehe, dass ihre schwarzen Augen offen sind, funkeln wie Sterne. Sie leuchten so intensiv, als wären es Scheinwerfer, die mich anstrahlen und jeden Zentimeter von mir ausleuchten. Ich schwöre bei Gott, in jenem Moment hatte ich fast den Eindruck, sie wusste es.
3. Kapitel
Karen
M ackie, du blöder Wichser!
Die Worte kreisen seit Langem in meinem Kopf und brechen nun jäh aus mir heraus, hallen
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