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Die verborgenen Bande des Herzens

Die verborgenen Bande des Herzens

Titel: Die verborgenen Bande des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Deveney
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Doch wenn das, was ich in diesen Momenten erlebte, eine Krise war, dann fühlte es sich weit besser an als die Normalität. Ich war so ruhig und entspannt wie seit Jahren nicht mehr. Nicht nach außen hin. Nach außen hin ruhig zu wirken ist relativ einfach. Nein, tief, ganz tief in mir drinnen. Irgendwo tief in mir verborgen hatte ich eine unbewohnte Insel entdeckt.
    Bei unseren Therapiesitzungen pflegte Dr. Hammond mich mit ruhiger Stimme zu fragen: »Sagen Sie, Carol Ann, was ist das Schlimmste, was passieren kann?« Ich liebte seine Ruhe. Sie gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Wenn ich bei ihm war, hatte ich das Gefühl, alles schaffen zu können. Bei einer Depression, erklärte er, könne es sich auch um eine vorübergehende Phase handeln, es müsse kein permanenter Zustand sein, woraufhin ein kleiner Funke Hoffnung, zart wie ein Aufseufzen, in mir aufkeimte. Doch wenn ich dann seine Praxis verließ, mich wieder hinaus in den Sturm wagte, wurde ich fast augenblicklich wieder schwach und hilflos, ohnmächtig.
    Dr. Hammond arbeitete geduldig mit mir, gab mir Trost und Mut, um mir zu zeigen, dass ich auch das Schlimmste überleben konnte. Und vielleicht hatte er recht. Momentan war eigentlich nichts mehr übrig von mir, was eine Rettung rechtfertigte. Ich war zum denkbar schlechtesten Menschen geworden, jemand, der sang- und klanglos verschwindet, seine Familie einfach im Stich lässt. Ich war schwach, minderwertig, kraftlos, wie eine Pusteblume im Wind. Nichtswürdig. Das hatte ich schon immer gewusst. Trotzdem, sehen Sie nur. Schauen Sie mich an. Mein Herz arbeitete immer noch kräftig und pumpte Blut durch meinen Körper. Meine Finger klopften im Rhythmus zu dem Song aus dem Autoradio auf das Lenkrad, unbewusst, denn ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich der Musik lauschte. Ich schaute nach unten, sah, wie meine Finger sich bewegten, und Staunen erfüllte mich. Ich lebte immer noch.
    Auf dem Heimweg vom Krankenhaus nach Hause fuhr ich bewusst langsam. Als ich durch unser kleines Dorf kam, sah ich Linda Strachan aus der Tür des Postamts treten. Sie winkte mir zu, aber ich erwiderte ihren Gruß nicht. Es war mir nicht wichtig zu winken, es war mir egal, was sie dachte. Man stelle sich das einmal vor! Carol Ann Matthews scherte sich nicht darum, was andere von ihr dachten. In diesem Moment wusste ich, dass ein kleiner Teil von mir sich bereits aus dem Staub gemacht hatte.
    Ich fuhr an dem Weiher vorbei, an dem ich so oft spazieren gegangen war, wenn ich das Bedürfnis hatte, allein zu sein, und dann weiter zum Haus und stellte den Wagen ordentlich in der Einfahrt ab. Ich glaube nicht, dass ich das Haus noch einmal sehen wollte, ehe ich fortging.
    Das Komische ist, ich fuhr nicht ein letztes Mal zum Haus zurück, um irgendwelche Sachen zu holen. Ich fuhr hin, um sie zurückzulassen.
    Das Auto. Meine Schlüssel, mein Prepaidhandy, Guthaben 2,23 Pfund. Ich nahm mein Scheckbuch, die Kreditkarten, die Kontoauszüge aus meiner Handtasche und steckte alles in die alte Handtasche, die ich ganz hinten in meinem Schrank aufbewahrte. Ich packte keine Reisetasche, nahm nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln mit. Ich wollte Carol Ann Matthews’ Unterwäsche nicht mehr. Ich wollte ihr Leben nicht mehr. Ich wollte nichts von dem haben, was sie besaß. Ich wollte ihr Leben ablegen wie ein altes Kleid und es in den Schrank hängen. Dann wollte ich in ein neues Kleid schlüpfen, eins, das Carol Ann noch nie gesehen hatte.
    Sie meinen bestimmt, es ist ungemein schwer, einfach wegzugehen, ein ganzes Leben hinter sich zu lassen. Aber es ist wirklich denkbar einfach. Man verlässt sein Haus und geht fort, immer weiter, setzt einfach stur einen Fuß vor den anderen. Ich schlug die Tür zu, hörte, wie das Schloss einschnappte. Die Absätze meiner Stiefeletten hallten auf dem gepflasterten Weg wider, der vom Haus zum Gartentor führt. Ich ging an dem Panoramafenster vorbei, ohne hineinzuschauen. Keine nostalgischen Gefühle, keinerlei Bedürfnis, auf irgendetwas einen letzten Blick zu werfen. Noch ein letztes Mal hinzuschauen, wäre ein Mal zu viel gewesen. Absichtlich schaute ich in die andere Richtung, hin zur Straße. Ich sah eine Schwalbe, die auf das Gebälk unter unserem Dachvorsprung zuflog.
    Das leise Geräusch, mit dem meine Oberschenkel in der Jeans beim Gehen aneinanderrieben, klang tröstlich in meinen Ohren, wie ein neuer Rhythmus. Swisssch, swisssch, swisssch – wie ein Metronom, das den Takt meiner sich entfernenden

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