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Die verbotene Pforte

Die verbotene Pforte

Titel: Die verbotene Pforte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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die von der Decke hingen, hielt er sich fest und schlang die Beine um die Kette, an der die Lampe hing. Es war nicht schwer, die Borke mit Anguanas Faden daran zu befestigen. Nach wenigen Handgriffen hing sie an zwei fast unsichtbaren Fäden mit der ausgehöhlten Seite zur Wand. Tobbs stieß sich mit beiden Beinen von der Zimmerdecke ab und schwebte langsam wieder zu Boden. Unten angekommen, wickelte er auch die Metallkette um den vermeintlichen Ast und betrachtete zufrieden sein Werk. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man annehmen, der Eichenast schwebe immer noch an seinem ursprünglichen Platz. Nun kam der zweite Teil an die Reihe: Tobbs nahm sich zwei Opferschalen von Kalis Altar und schob sie in die weiten Taschen seiner Jacke. So beschwert, setzte er sich auf den Boden und suchte Münzen und winzige Skulpturen zusammen, die im Opferkasten lagen. Er steckte alles, was er finden konnte, in seinen Hosensaum und seine Hosentaschen und stand auf.
    Schwer war er immer noch nicht, aber die Schalen und Münzen hielten ihn so weit am Boden, dass er zumindest den Eindruck erwecken konnte, normal zu laufen. Nur zu fest abstoßen durfte er nicht. Schlurfen funktionierte dagegen ganz gut. Mamsie Matata nickte zufrieden. »Nicht schlecht«, meinte sie. »Und jetzt?«
    Tobbs schlurfte zu Matatas Spiegel und streckte auffordernd die Hand nach ihr aus. Wenige Augenblicke später fand er sich hinter dem Glas wieder. Auf der anderen Seite blieb Tobbs’ Körper, reglos, mit leicht verdattertem Gesichtsausdruck zurück. Er schwankte wie ein Grashalm in einer Sommerbrise.
    Tobbs wurde mulmig, als er seinen Körper sah, aber er stellte auch fest, dass ihm der Schwebanzug ganz gut stand. Seltsam gebeult an einigen Stellen, aber durchaus passabel.
    »Willst du ihnen etwa davonfliegen oder was?«, flüsterte Mamsie Matata ihm zu.
    Tobbs nickte. »Es ist meine einzige Chance. Der Raum kann nur durch den magischen Spiegel betreten werden, richtig?«
    »Richtig.«
    »Und die Priester werden mich holen. So komme ich raus. Ich darf ihnen keinen Grund geben, mich zu fesseln, sonst habe ich keine Chance mehr. Aber so … werden sie mich auf das Dach bringen, richtig?«
    Mamsie Matata nickte.
    »Wenn ich Glück habe, springe ich dann von der Stadtmauer und komme unten an. Lebendig, wie ich hoffe.«
    »Weil die Schwärme dir nichts tun?«, fragte Matata spöttisch. »Du behauptest doch steif und fest, ein Mensch zu sein?«
    Tobbs schluckte. »Ich bin noch bei Plan A. Aufs Dach zu kommen. Dann muss ich weitersehen.«
    Matata lachte schallend.
    »Du gefällst mir wirklich. Schlauer, als ich dachte! Du denkst nicht mal wie ein Mensch, fällt dir das eigentlich auf?«
    Tobbs winkte unwillig ab. Mamsie Matatas Lachen verschwand.
    »Du meinst es ernst«, stellte sie mit sachter Verwunderung fest. »Du bist nicht verrückt, stimmt’s? Nur verzweifelt. Was wartet auf dich da draußen, das so wichtig ist?«
    Tobbs seufzte. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Und heute ist mein Geburtstag, da sollte ich es erfahren. Kannst du mir nicht sagen, was du siehst?«
    Mamsie schüttelte den Kopf. »Jeder hat seinen Platz in der Ordnung. Es steht mir nicht zu, sie durcheinanderzubringen. Und was, wenn meine Augen sich täuschen?«
    Tobbs biss enttäuscht die Zähne zusammen und schluckte seinen Ärger hinunter.
    »Hilfst du mir dann wenigstens bei der Flucht, Mamsie Matata? Du kennst die Stadt. Erzähl mir, was du über das Opferfest und die Wege weißt.«
    »Das tue ich – wenn du auch etwas für mich tust. Zerstöre die Spiegel!«
    »Was?«
    »Erst wenn ein Spiegel zerbricht, sind die Toten frei. Lass sie frei, Tobbs. Darauf hoffen sie. Frag sie selbst, wenn du willst.«
    »Warum haben die anderen vom Himmel Gefallenen euch nicht befreit?«
    »Hm, lass mich nachdenken«, gab Mamsie trocken zurück. »Ach ja, richtig! Weil sie entweder schon tot, verrückt oder gefesselt waren.«
    »Aber was passiert dann?«, fragte er leise. »Ich meine, wenn die Spiegel zerstört werden?«
    »Dann suchen die Seelen sich einen neuen Körper. Hier in Yndalamor finden sie immer wieder eine neue Gestalt. Und je nachdem, wie sie zuvor gelebt haben, ist es ein besseres oder schlechteres Schicksal, das sie im nächsten Leben erwartet. Tja, jedes Land hat so seine eigenen Traditionen – selbst das Totsein hat überall seine ganz eigenen Gesetze.«
    Tobbs fröstelte. Die Vorstellung gefiel ihm nicht – noch viel weniger, wenn er seinen leeren Körper vor dem Spiegel betrachtete.

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