Die verbotene Pforte
verrückt.«
Tobbs atmete tief durch. Es war nur ein Spiegelbild gewesen – das Bild kam vom Dach des Gebäudes und wurde über zahllose Spiegel weitergegeben – bis in die Räume der Stadt.
»Waren das … die Schwärme?«, fragte er mit schwacher Stimme.
Die Frau nickte. »Allerdings. Noch nie sind sie so tief geflogen.«
Ohne Tobbs einen weiteren Blick zu gönnen, schob sie sich an ihm vorbei in Richtung Tür. »Zieh dich um!«, befahl sie. »Und beeil dich. Ich bin bald zurück.« Dann klappte die Tür hinter ihm zu. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Und er war allein.
Der Panoramaspiegel glänzte schwarz, erst nach einer Weile schob sich ein neues Bild über die Dunkelheit. Vermutlich hatte ein Spiegelwender den Verlust des zerbrochenen Spiegels auf dem Dach ausgeglichen. Der Himmel war wieder blau, nur in der Ferne kreiste etwas, was beinahe wie ein Schwarm großer Vögel wirkte. Beinahe. Tobbs zerrte das rosafarbene Gewand aus dem Ständer und hängte es über den Spiegel. Man konnte nie wissen, ob er es hier mit einem Spionspiegel zu tun hatte.
»He!«, nuschelte Mamsie Matata dumpf in sein Jackenfutter. »Was ist da draußen los? Wo sind wir?« Tobbs hob seinen Jackensaum und drehte sich um die eigene Achse, damit Matata den Raum betrachten konnte.
»Im fünften Stock«, sagte er ohne viel Hoffnung.
Mamsie Matata hüstelte. »Ist denn hier irgendwo vielleicht ein Fenster?«
Tobbs nickte, dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte, und holte den Spiegel unter der Jacke hervor. Mamsie Matata lächelte zufrieden.
»Ein Fenster, sehr gut. Schau hinaus.«
Unter ihm tat sich eine Schlucht auf. Ganz unten auf den Straßen glitzerte etwas und emsige Käfer eilten mit Besen in den Händen herum und kehrten es zusammen. Spiegelscherben.
»Die Stadt bietet von oben eine möglichst kleine Angriffsfläche«, erklärte Mamsie Matata. »Die Schluchten zwischen den Häusern sind so schmal, dass die Schwärme Mühe hätten, sich darin zu bewegen. Welche Gestalt sie auch annehmen – Vögel, Drachen oder Geparden –, immer haben sie große Flügel. Und die brauchen Platz. Bisher ist es jedenfalls noch keinem dieser Geschöpfe gelungen, sich bis zu den Tempeln hinunterzukämpfen. Der Großteil der Bevölkerung lebt unten.« Sie grinste. »In den oberen Stockwerken wohnen fast nur die Spiegelwender, die Wachen – und die Abenteurer. Manche kommen aus den entferntesten Provinzen hierher, um die Gefahr zu spüren.«
»Wozu?«
Matata hob gleichgültig die Schultern.
»Weil das Leben ihnen sonst zu langweilig ist. Weil sie mutig sein wollen. Aber die meisten tun es, um zu Hause ihre Liebsten zu beeindrucken. Nun, wie auch immer, jetzt ist es unser Glück, dass das Haus gegenüber so nah dran ist.«
Tobbs betrachtete die Hauswand. Sie war nicht mehr als zwei große Sprünge entfernt. Aber für seinen Geschmack zwei Sprünge zu viel.
»Ich soll springen?«, flüsterte er. »Über den Abgrund …«
»Deine einzige Chance. Wenn du Glück hast, ist die Wohnung da drüben gerade leer.«
Tobbs schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Springen wirst du so oder so – entweder du springst freiwillig oder sie werfen dich runter.«
Mamsie Matata hatte recht. Tobbs blieb keine Wahl. Er nahm die schwere Opferschale aus seiner linken Jackentasche. Sofort wurde er leichter.
»Du machst mir nur Probleme«, knurrte er.
Mamsie Matata lachte. »Probleme lautet mein zweiter Vorname. Ohne Probleme ist ein Leben doch nur eine schleimige, langweilige Schneckenspur. Und jetzt wirf Ballast ab, nimm meinen Spiegel und spring!«
Tobbs konnte nicht glauben, dass er es wirklich tat. Er hockte auf dem Fensterbrett wie ein Vogel, die Hände an der Kante festgekrallt. Der Spiegel auf seinem Rücken hielt ihn in der Balance. Vorsichtig federte er in den Knien und konzentrierte sich nur auf das gegenüberliegende Fenster. Dann stieß er sich ab und – segelte durch die Luft wie ein langsamer Ball! Mit einem Ruck stieß er gegen das Fensterbrett und klammerte sich daran fest. Mamsies Spiegel schlug schmerzhaft gegen seine Schulterblätter. Nicht nach unten schauen!, befahl er sich. Trotzdem genügte schon das Wissen, dass seine Füße über dem Abgrund schwebten, damit ihm auf der Stelle übel wurde.
Hastig kletterte er über das Fensterbrett ins Innere des Zimmers und wollte sich auf den Boden werfen. Doch stattdessen prallte er vom Boden ab und wurde schwebend zu einem Tisch getragen. Kleidungsstücke lagen
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