Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Marie sieht in ihre Gesichter und wundert sich, dass sie keine Reaktion erkennen kann.
In den Bussen thronen Schaffner auf erhöhten Sitzen, sie haben alles gut im Blick. Bei ihnen kaufen sie sich für wenig Geld Fahrkarten und lassen die Stadt stundenlang an sich vorbeiziehen.
ANDERNTAGS beobachten sie eine Gruppe Japaner, die vor dem Hotel, auf dessen Dach sie übernachtet haben, gerade in einen Bus einsteigen. Sie fragen, ob ihr Ziel die Chinesische Mauer sei und ob Marie und er vielleicht mitfahren könnten. Die Japaner willigen ein.
Als sie an der Mauer ankommen, herrscht ein großer Andrang von Touristen aus aller Welt. Marie versucht sich vorzustellen, wie es einst auf diesem Bauwerk zugegangen ist, wie das Leben an dieser Grenzanlage wohl einst ausgesehen haben mochte.
Ist es nicht widersinnig, dass die Menschen anscheinend immer schon gedacht haben, dass Mauern sie vor Unheil schützen könnten? Ob unsere Mauer daheim auch einmal so sinnlos sein wird, wie diese?
Jens setzt sein Fernglas ab.
So wie diese hier wird sie bestimmt nicht stehen bleiben.
Sie gehen bei sengender Sonne auf der Mauer entlang, immer weiter, bis niemand sonst mehr in ihrer Nähe ist. Den restaurierten Teil haben sie längst hinter sich gelassen. Es wird wilder, die große Mauer liegt jetzt so unter ihnen, wie sie jahrhundertelang gelegen hat.
Es ist still, ein heißer Wind weht über die Steine. Sie kommen an eine Stelle, an der es nicht weitergeht, ein eingefallener Turm versperrt den Weg.
Dort entdecken sie einen Chinesen, der im Schatten sitzt. In einem kleinen Käfig, der neben ihm steht, hält er eine Nachtigall gefangen. Als sie näher treten, sehen sie, dass der alte Mann tief schläft.
Marie betrachtet den kleinen, stummen Vogel und zieht dann Jens mit beiden Armen an sich heran und küsst ihn innig.
Am frühen Morgen des nächsten Tages, nach einer Reise von 10806 Kilometern, stehen sie in Peking vor der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Das Gebäude liegt auf der anderen Straßenseite, nur wenige Schritte trennen sie noch vom Eingang. Doch scheint die Botschaft genauso unerreichbar wie die Ständige Vertretung Westdeutschlands daheim, in Ost-Berlin. Überwachungskameras, Polizeiposten, zivile Sicherheitsbeamte, die das Gebäude im Blick behalten und unerwünschte Personen abschrecken.
Auf der anderen Straßenseite gäbe es die Pässe zur Ausreise in den Westen. Bis hierher haben es Marie und Jens geschafft. Jetzt müssen beide für sich entscheiden, wohin ihre Reise weitergeht, ob sie ihr Land für immer verlassen wollen.
Gehen oder bleiben, wie sehr haben sie daheim die Debatten gehasst, in denen andere ihnen vorschreiben wollten, was richtig und was falsch ist. Jetzt will keiner der beiden dem anderen vorschreiben, welchen Weg sie oder er nimmt.
Sie gehen noch nicht über die Straße, sondern laufen weiter durch das Zentrum der Stadt, überqueren den gewaltigen »Platz des Himmlischen Friedens«, der vor dem imposanten ochsenblutroten alten Kaiserpalast liegt. Über dem Eingang zum Palast blickt Mao Zedong, wie ein neuer Kaiser, aus einem gewaltigen Porträt über die Köpfe seines Volkes hinweg. Marie und Jens halten sich an der Hand, sie reden nicht viel.
Im Schatten der Bäume eines Parks sehen sie Frauen beim Thai-Chi. Zwei alte Männer bewegen sich auf dem vertrockneten Rasen beim Schattenboxen langsam, wie in Zeitlupe.
Am Bahnhof reihen sie sich in eine lange, lärmende Schlange vor dem Fahrkartenschalter ein. Sie schaffen es, unter den vielen Tausend Chinesen einen zu finden, der Englisch spricht und bereit ist, für Marie ein Zugticket bis in die Mongolei zu kaufen.
Der Zug fährt erst am nächsten Tag. Sie verbringen noch eine Nacht auf dem Dach des Hotels. Als er in den nächtlichen Himmel schaut, hat Jens eine Idee. Im Rucksack hat er noch zwei Postkarten vom Baikalsee, die kommen ihm nun gelegen. Marie soll sie auf einem russischen Bahnhof mit der Post aufgeben. Eine adressiert er an Marie in der Rykestraße, die andere an seine Eltern in Leipzig.
Jens schreibt auf beiden Karten etwa gleichlautend, er sei noch in der Sowjetunion, allerdings sei er krank, er habe sich unterwegs eine Gelbsucht eingefangen, die er erst auskurieren müsse. Niemand solle sich bitte deswegen Sorgen um ihn machen. Eine russische Familie in der Taiga habe ihn aufgenommen, bei ihnen sei er in guten Händen. Wann er gesund genug für die lange Rückreise sei, könne er noch nicht sagen.
Den Text auf den Karten
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