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Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wensierski
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Was wäre passiert, wären wir nur zwei Minuten zu spät gewesen? Wärst Du für immer bei mir geblieben? Ich würde es mir so sehr wünschen …
    AM SELBEN TAG kommt Marie nach vier Monaten wieder zurück in die Rykestraße, in die verlassene Wohnung. Sie legt sich in das Bett, zieht die Decke über sich und schläft bis in den Abend.
    Als sie wach wird, geht sie in die Küche, macht etwas Wasser heiß, nimmt einen Tee nach dem anderen aus der BaKo- Kiste, doch sie stellt alle Teesorten wieder zurück ins Regal und setzt sich an den Schreibtisch.
    Ihr Gedanke, zu ihren Eltern zu fahren, sie in den Arm zu nehmen und von ihren Erlebnissen zu erzählen, ist verflogen.
    Alles hier zu Hause fühlt sich merkwürdig an, wie in einem Traum. Sie denkt an Jens, der immer noch in China ist, doch sie kann den Gedanken nicht festhalten.
    Sie sieht sich um, ihr Blick bleibt an der Weltkarte hängen, am Bett, am Spiegel.
    Es ist spät geworden. Sie verlässt die Wohnung und steigt die Treppen hinauf, klettert durch die Luke aufs Dach, setzt sich auf ihren Platz mit Blick auf den alten Wasserturm. Einer der Schornsteine ist schon ganz zusammengefallen. Sie nimmt einen Block in die Hand und schreibt.
    Es ist kurz vor Mitternacht, die liebste Zeit für mich. Mein lieber, ganz lieber Jens!
    In mir ist es jetzt wohlig, und ich sitze mit Tränen in den Augen, die aber nicht wehtun, auf unserem Dach. Neben mir drei Kerzen, ihr Licht wärmt mich und beruhigt mich, sie helfen meinen Augen, denn es ist ja schon finster.
    Ich habe Stefan Zweigs Erinnerungen über die »Welt von Gestern« noch einmal in die Hand genommen, wie damals, nach unserer ersten Nacht. Es lag neben Deinem Bett, in dem Du schliefst. Er hat recht. In den langen Tagen, den langen Nächten der Reise habe ich im Umgang mit dieser anderen Art von Menschen mehr gelernt von den Kräften und Spannungen, die unsere Welt bewegen, als aus hundert Büchern. Die Distanz von der Heimat verändert das innere Maß. Manches, das mich früher über Gebühr beschäftigt hat, beginnt sich mit meiner Rückkehr klein anzufühlen, und unser Land, ja Europa, sehe ich längst nicht mehr als die ewige Achse unserer Erde.
    Vorhin saß ich an Deinem Schreibtisch, drehte mich um und sehe Dich im Bett. Mit dem Arm stützt du Deinen Kopf, und um uns ist die Ruhe, die wir so sehr lieben gelernt haben. Eine Ruhe, die Kraft und Vertrauen gibt und Kribbeln im Bauch.
    Ich liebe Dich und kann es kaum aushalten.
    Über dem Bett hängt immer noch Dein Zettel an der Wand, weißt Du noch? Ich habe ihn gelesen, da steht:
    Wende Dein Gesicht der Sonne zu, so fallen die Schatten hinter Dich.

Epilog
    Nachdem sie sich am Bahnhof in Peking getrennt hatten, verbrachte Jens noch einige Tage in der Stadt. Wie geplant ging er nicht sofort zur westdeutschen Botschaft, um sich dort einen Pass ausstellen zu lassen. Noch nicht. Bevor er diesen letzten Schritt tat, wollte er Marie genug Zeit lassen, um sicher nach Berlin zurückzukehren.
    Jens machte stattdessen einen Ausflug Richtung Süden, zum Li-Fluss und nach Yangshuo, um die berühmten Kegelberge zu sehen. Er nutzte die Zeit und fotografierte das Leben am Fluss. Dörfer, Bambushaine und Kormoranfischer. Dazu ließ er sich auf einer kleinen Dschunke mitnehmen.
    Ein paar Tage später reiste er zurück nach Peking und wagte sich schließlich in die Botschaft. Die Mitarbeiter waren verblüfft, freundlich und fragten neugierig, wie er das geschafft habe. Von Ost-Berlin nach Peking? Jens erzählte ihnen ein wenig. Nur einen Tag später hielt er den grünen westdeutschen Pass in seinen Händen. Man bot ihm an, mit dem Flugzeug direkt nach Deutschland zu fliegen. Für die Flugkosten könne er problemlos einen Kredit erhalten. Und er könne doch auch gleich den Flug am nächsten Tag nehmen.
    Er wollte allerdings nicht, dass wieder jemand anderes bestimmte, wann er wohin reisen sollte, dankte für das Angebot und lehnte es ab. Er schmiedete einen neuen Plan.
    Jens hatte zweihundert Dollar von einem Lehrer aus Deutschland geschenkt bekommen, den er im Süden am Li-Fluss kennengelernt hatte. Der Mann stammte aus Rothenburg ob der Tauber und machte ganz allein eine Bildungsreise durch China. Jens traf ihn beim Abendessen in einem einfachen Hotel. Sie verstanden sich gut, liehen sich am nächsten Tag gemeinsam Fahrräder aus und unternahmen zusammen Ausflüge. Der Lehrer aus dem Westen Deutschlands konnte es kaum fassen, dass er mitten in China einen jungen Studenten aus

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