Die verbotene Reise: Die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
diese einmalige Chance, mit unseren Pässen, die kriegen wir nie wieder!
Ja, vielleicht. Aber welche Chance hat meine jüngere Schwester denn noch, ihr Studium fortzusetzen, wenn ich abgehauen bin? Kann mein Vater dann noch bei der DEFA bleiben? Es geht doch nicht nur um mich, Jens. Unsere Leben gehören nicht uns allein.
Jens starrte wieder in die Ferne.
Was ist denn mit meinem Leben, seit sie mich aus der Uni geschmissen und mir dann auch noch meine Vorträge verboten haben? Marie, du weißt, ich habe keine Geschwister, meine Eltern haben mich freigegeben, ihnen kann auch nichts mehr passieren.
Jens, ich versteh das. Ich habe befürchtet, dass du die Gelegenheit nutzen willst. Aber ich habe auch gehofft, dass du deine Meinung doch noch änderst.
Und ich habe gehofft, dass DU am Ende der Reise mit mir gehst.
Sie mussten beide lachen, obwohl ihnen danach nicht zumute war. Marie erhob sich, nahm Jens bei der Hand und ging mit ihm ein paar Schritte bis zur Kante des Daches. Sie standen nebeneinander und blickten über die Stadt.
Lass uns mehr von China erleben, sagte Marie. Noch ist es nicht so weit. Noch müssen wir uns nicht endgültig entscheiden. Diese Etappe des Weges werden wir auf jeden Fall noch zusammen zurücklegen. Du hast dir gewünscht, mit mir durch die Steppe zu reiten, ich will mit dir auf der Chinesischen Mauer stehen. Dann sehen wir weiter.
In der Nacht fand Marie keinen Schlaf. Sie war traurig, dachte: Wenn wir Mongolen wären und uns trennen müssten, nachdem wir gemeinsam durch die Steppe geritten sind, würden wir sagen: Du musst deinen Weg gehen, ich meinen.
In diesem Moment schlug Jens seine Augen auf. Nach einer Weile sagte er:
Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal einer Frau begegne, mit der ich Abenteuer so gut teilen kann.
Marie lächelte. Es war eine helle und heiße Nacht. Aus den Straßen der Stadt drangen fremde Geräusche bis zu ihnen hoch. Offenbar fanden viele andere auch keine Ruhe.
Ich halte auch noch mehr durch. Du hast an unserem ersten Abend gesagt, wenn man einmal etwas geschafft hat, dann kann man das immer wieder. Du hast so viel für mich getan, aber diese Reise mit all dem, was passiert ist, hat mich auch stärker und mutiger werden lassen. Ich war in Ulan Bator alleine im Wald. Ich könnte alleine zurückfahren, ich würde das schaffen. Aber wenn du gehst und ich nicht, dann gibt es uns nicht mehr.
Ich kann nicht zurück, Marie. Keine Arbeit, keine Vorträge, keine Reisen … das geht nicht, ich würde in Berlin an deiner Seite sein, aber verkümmern. Ich bin wütend über ein Land, das Menschen in so eine Situation bringt, in der wir jetzt sind.
Jens nahm sie in den Arm.
Ich hatte wirklich sehr gehofft, dass du mitkommst. Aber ich sehe langsam ein, dass jeder wohl seinen eigenen Weg gehen muss. Was wir auf unserer Reise erlebt haben, ist bald nur noch Erinnerung, aber die wird uns immer verbinden. Triff bitte deine eigene Entscheidung, unabhängig von mir.
In Maries Traurigkeit mischte sich das angenehme Gefühl, dass Jens sie nicht unter Druck setzte. Für ihn war es besser, zu gehen, das begriff sie. Sie würde ihre Entscheidung selbständig treffen. Eine größere Freiheit konnte es nicht geben. Und dennoch wollte sie sich nicht sofort entscheiden, sondern noch einige Tage mit Jens verbringen und die gemeinsame Zeit genießen.
ALS SIE im Pekinger Hauptbahnhof aus dem Zug steigen, ist es heiß und sie kommen in den drängelnden Menschenmassen kaum voran. Die meisten Menschen um sie herum tragen graue, blaue oder blassgrüne Arbeitsanzüge. Alle bewegen sich trotz der feuchten Hitze schnell durch die Stadt, zu den wenigen Langsamen gehören einige sehr alte Frauen, die verkrüppelte Lotusfüße haben und sich am Stock die Straßen entlangschleppen.
In den breiten Alleen fahren Hunderte von Fahrradfahrern, die ständig ihre Klingeln benutzen, um sich Platz zu verschaffen. An den Kreuzungen geht es chaotisch zu, die Polizisten, die auf hohen Türmen stehen und ständig pfeifen, versuchen, das Chaos zu bändigen.
Nicht selten passiert es, dass zu viele Fahrradfahrer zu dicht beieinanderstehen, der erste verliert dann das Gleichgewicht und in einer Kettenreaktion kippt einer nach dem anderen um.
Marie und Jens laufen an Plakatwänden vorbei, auf denen in Großaufnahme schwere Verkehrsunfälle gezeigt werden, ein halber Kopf schaut unter einem Lastwagenreifen hervor, ein Radfahrer ist kaum mehr als Mensch zu erkennen. Viele Passanten bleiben davor stehen.
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