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Die Verfemten

Die Verfemten

Titel: Die Verfemten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Knip
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kamen aus der gleichen Region; Verwandte oder Nachbarn. Die, die sich kannten, schlossen sich zusammen und kehrten nach Hause zurück. Um zu vergessen und zu hoffen, dass man vergaß, was sie getan hatten. Oder ihnen zumindest vergab.“
    Ein Ächzen erklang aus den Tüchern, die wie ein Schleier vor den unteren Bereich des Kopfs gelegt waren. Kurz fasste sich die Gestalt an die rechte Seite. Talon hörte ein leises Fluchen. Niemand in der Runde reagierte darauf oder machte Anstalten, dem Vermummten zu helfen.
    „Wir dachten, wir könnten wieder unser altes Leben leben“, fuhr die raue Stimme fort, unterbrochen von hastigen Atemzügen. „Doch dann begannen wir uns zu verändern. Innerhalb von Tagen. Male zeichneten sich auf unserer Haut ab, Wunden heilten nicht mehr oder sie brachen einfach auf. Wir wurden wie Aussätzige behandelt, wie jemand, der eine Krankheit hat. Die Menschen jagten uns aus unseren Dörfern.“
    Die Gestalt streckte die zerlumpte linke Faust vor. „Weißt du, wie es ist, wenn die eigene Familie vor dir ausspuckt? Wenn sie Angst vor dir hat, wenn du die Todesfurcht in ihren Augen siehst? Wenn du spürst, dass sie wünschten, du wärst nicht mehr hier? Wenn du irgendwann einfach gehst, weil du mit ansehen musstest, wie ein anderer mit Steinen vertrieben wurde und du weißt, dass du bald, schon bald, sein Schicksal teilen wirst?“
    Der Holzstab beschrieb einen Bogen durch die Luft.
    „Uns allen war klar, dass uns etwas verändert hatte. Das, was mit uns geschah, hatte keinen natürlichen Ursprung. Etwas Magisches, etwas Dämonisches, war in uns eingedrungen und fraß uns von innen her auf. Und es gab nichts, das uns helfen konnte.“
    Talon suchte die Augen der Gestalt, die im Halbdunkel der Stofflagen kaum auszumachen waren, doch der Vermummte drehte den Kopf ab.
    „Wir wussten bald voneinander. Es sprach sich rasch herum, was mit uns geschehen war. Also beschlossen wir, uns zusammenzutun und nach einer Zuflucht zu suchen. Zumindest die, die noch Kraft hatten, zu gehen. Die anderen mussten wir zurücklassen.“
    Kurz sah sich die Gestalt um.
    „Wir sind südwärts gezogen, durch Gegenden, die sich vor unseren Augen veränderten, noch während wir sie durchquerten. Dörfer lagen verlassen vor uns. Doch wir konnten nicht einziehen, denn die Häuser zerfielen buchstäblich. Sie lösten sich in Staub auf und verschwanden einfach. Wie alles, was uns hätte helfen können. Bis nichts zurückblieb als der blanke Boden.
    Irgendwann dann haben wir dieses Tal erreicht. Abgelegen, verwinkelt, nur schwer zugänglich. Uns war klar, dass wir nirgendwo mehr Schutz erhoffen durften als hier. Hier haben wir seit gut zwei Monaten endlich die Ruhe gefunden, die wir gesucht haben.“
    „Was mit euch geschehen ist, tut mir Leid“, setzte Talon an, als ihm klar war, dass die Ausführungen zu Ende waren, „doch warum erzählst du mir das alles?“
    Die vermummte Gestalt riss die Arme empor und zerrte an den Stoffbahnen, die um den Kopf gehüllt waren. Knirschend brach der Stoff auf und enthüllte eine faulige Masse sterbenden Fleisches, die von blutenden Geschwüren durchsetzt war. Ein durchdringender Verwesungsgeruch schlug Talon entgegen. Er erkannte in der eiterzerfressenen Grimasse die Gesichtszüge einer Frau, deren obere Lippe nur noch durch wenige Streifen mit der Haut verbunden war.
    „Weil das hier das ‚Geschenk’ Eser Krus für all jene ist, die ihm gefolgt sind! Weil wir wollen, dass du uns hilfst!“, schrie ihm die Frau, die vielleicht Anfang Vierzig sein mochte, mit ihrer tiefen, brüchigen Stimme entgegen. Nur behelfsmäßig wickelte sie den Stoff wieder um ihre entstellten Züge.
    „Ich habe unser Glück nicht fassen können, als ich gesehen habe, wer durch das Tal kommt. Darauf hätte ich niemals zu hoffen gewagt! Deshalb habe ich diese vom Wahnsinn vernebelten Narren nur mit Mühe davon abhalten können, dich einfach zu töten.“
    Talon atmete tief durch. Der Anblick hatte ihm mehr zugesetzt, als er es sich selbst eingestehen wollte. Vielleicht, weil er die ganze Zeit gedacht hatte, er würde mit einem Mann reden. Und es ihm leichter fiel, diesen mitleidslos als ‚Gegner’ abzutun.
    „Wie …“, er musste absetzen, „wie soll ich euch helfen können?“
    Die Frau hatte ihre Fassung inzwischen zurück gewonnen und wirkte so gleichmütig wie zuvor.
    „Komm mit“, befahl sie ihm. Talon unterdrückte das Schwindelgefühl, als er sich aufsetzte, und folgte der Vermummten. Sofort

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