Die Verfemten
Talon Nummer 23
„Die Verfemten“
von
Thomas Knip
Nur wenig Licht fiel durch die Baumkronen, die sich weit über dem hochgewachsenen Mann als dunkle Schatten am Himmel abzeichneten. Es war früher Vormittag, dennoch war die schmale Talsenke in ein Dämmerlicht getaucht, das einen kaum auszulotenden Schleier auf die Umgebung legte.
Mehrmals war Talon auf dem mit losem Geröll bedeckten Boden ins Rutschen geraten und hatte sich einige Schürfwunden zugezogen. Irgendwann hatte er eine offen hervorstehende Wurzel aus einem der schlanken, hoch aufragenden Bäume geschlagen, die an den terrassenartig verlaufenden Vorsprüngen wuchsen. Mit diesem behelfsmäßigen Stock konnte er sich auf dem lockeren Gestein besser abstützen und hatte einige Stürze vermeiden können.
Er fluchte innerlich auf. Die letzten Tage über war er durch die offene, in sanften Hügelketten verlaufende, Trockensavanne schnell vorwärts gekommen. Selbst die Erinnerungen an die Geschehnisse um Sekhmet verblassten allmählich, als seien sie nicht mehr gewesen als ein Traum.
Seine Gedanken richteten sich nach vorne. Er musste zu Shion zurück und zumindest versuchen, einen Weg zu finden, den Prozess umzukehren, den Eser Kru in Gang gesetzt hatte. Auf seinem Weg zum Tempel des schwarzen Löwen war er an mehreren verlassenen kleinen Siedlungen vorbei gekommen. Die leer stehenden Hütten hatten schemenhaft ausgesehen, als seien sie mit Pastellfarben in die Landschaft gemalt worden. Sie waren mit jedem Moment vor seinen Augen verblasst, und ihre Umrisse verloren an Form, wie Gebilde aus Sand, deren Staub der Wind mit sich reißt. Talon vermied die Frage, was geschehen würde, wenn die Zeit noch weiter zurück schritt. Wenn sie die Jahrtausende überwand und jenen Punkt erreicht hatte, den der schwarze Magier zu Leben erwecken wollte.
Er war nicht gewillt, zu warten, bis sich ihm die Antwort offen zeigte.
Gestern Abend hatte er den Eingang zu diesem Tal erreicht. Links und rechts schoben sich schroff emporsteigende Hügelketten in den Himmel, die sich noch weit bis zum Horizont hinzogen. Talon fehlte es an Ausrüstung, um sie auf direktem Weg zu überqueren, also wählte er den Weg durch das Tal, das von einem kleinen Bach durchschnitten wurde. Doch das ebene Gelände verlor sich auch hier rasch und wich diesem schmalen Einschnitt durch die Felsen, der kaum breiter als achtzig Meter war. Zu beiden Seiten türmten sich mächtige Schieferwände auf, deren graue Platten sich in langen Bahnen wie ein Muster übereinander legten.
Von der oberen Kante eroberte sich die Vegetation den Zugang zum Tal. Grüne Flechten legten sich wie ein Teppich auf den matten Stein. Lianenartige Gewächse umschlangen die dünnen Baumstämme und rankten sich an ihnen empor. Im Schein der Sonne breitete sich ein unwirklich aussehender heller grüner Schleier über den Talboden aus, der in einem diffusen, wabernden Dämmerlicht lag.
Talon hielt inne. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er ging in die Knie und legte den behelfsmäßigen Stab neben sich auf die rutschigen Schieferplatten, die sich aus der Wand gelöst hatten. Vor ihm schälte sich die Form eines menschlichen Knochens aus dem unförmigen Grau des Gesteins. Fetzen verdreckten Stoffs klebten an dem sauber abgenagten Knochen, der zu einem Unterarm gehören musste. Die wenigen Reste Fleisch, die noch an der Oberfläche klebten, waren fast schwarz und lange eingetrocknet.
Er erhob sich aus seiner gebeugten Haltung und sah sich um. Sein Blick fuhr suchend über das dämmrige Schattenspiel des Bodens, der sich in einem leichten Schwung zur Mitte des Tals absenkte. Es dauerte nicht lange, bis er weitere Umrisse erkennen konnte, die eindeutig zu den Knochen eines Menschen gehörten.
Talon griff nach dem Ast und stützte sich auf dem schräg abfallenden Untergrund ab. Über ihm erklangen entfernt die Geräusche kleiner Vögel, die sich in den Baumkronen tummelten. Doch hier unten legte sich eine schweigsame Ruhe auf das Tal, als ob das Leben beschlossen habe, sich von hier fern zu halten. Nicht einmal Insekten krochen über den Boden, die auf der Suche nach Nahrung an den Knochen reiche Beute gefunden hätten.
Wachsam blickte er sich um. Sein Blick bohrte sich noch tiefer in die Schatten der Umgebung, als er sich über das Geröll nach unten kämpfte. Zu beiden Seiten des Bachs, der sich in einem verschlungenen Bett durch das Tal zog, lief der Boden etwa drei, vier Meter flach aus. Sollte im Dunkel
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