Die Verfluchten
schüttelte den Kopf. »Nein. Obwohl es wirklich kein
Kunststück ist, wenn du es ihnen erlaubst, so deutlich auf deinem
Gesicht zu erscheinen.«
»Oh«, machte Andrej. »Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Vielleicht bin ich nur eine so gute Beobachterin«, antwortete Meruhe ausweichend, lachte leise und wurde dann umso ernster. »Ich
werde nicht schlau aus dir, Andrej. Du stellst diese Frage, als meintest du sie ernst.«
»Wer sagt dir, dass ich das nicht tue?«
»Der Umstand, dass du kein Dummkopf bist«, antwortete sie. »Jedermann weiß, dass kein Mensch imstande ist, die Gedanken eines
anderen zu lesen. Nur Narren, Kinder und Leichtgläubige glauben
etwas anderes. Du bist nichts von dem… und trotzdem stellst du so
sonderbare Fragen. Sag, Andrej… machst du dich über mich lustig?«
»Das wäre so ungefähr das Letzte, was mir in den Sinn käme«, erwiderte Andrej und verfluchte sich dafür, seine Gedanken überhaupt
offenbart zu haben. Was immer Meruhe auch in Wahrheit sein mochte, eines war sie ganz bestimmt - eine sehr gute Beobachterin. Sie las
vielleicht nicht direkt seine Gedanken, aber sie war sehr wohl in der
Lage, auch Dinge zu hören, die unausgesprochen blieben, und die
geheime Sprache des Körpers zu verstehen, die für jeden, der sie zu
erkennen vermochte, manchmal sehr viel mehr erzählte, als Worte es
tun konnten. Andrej ermahnte sich noch einmal zur Vorsicht.
»Wenn die Sklavenhändler wissen, wo sie euch finden, wie konntet
ihr ihnen dann so lange entkommen?«, fragte er, hauptsächlich, um
über etwas anderes zu sprechen. Dabei war ihm durchaus klar, dass
Meruhe auch diesen Versuch so mühelos durchschauen musste wie
alles andere zuvor.
»Weil sie uns bisher mehr oder weniger in Frieden gelassen haben.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, als nötige ihr die Antwort auf seine Frage eine Erinnerung auf, auf die sie lieber verzichtet
hätte. »Manchmal sind sie gekommen und haben ein wenig Vieh
gestohlen, ein paar Lebensmittel und Wasser.«
»Keine Menschen?«, fragte Andrej zweifelnd und dachte daran,
was ihm der Mann unten im Verlies erzählt hatte.
Meruhe zögerte gerade eine Winzigkeit zu lange, um ihre Worte
tatsächlich glaubhaft klingen zu lassen. »Es waren am Anfang nur
sehr wenige«, antwortete sie ausweichend. »Dann und wann haben
sie einen Mann oder eine Frau verschleppt, und von Zeit zu Zeit -
aber nicht oft - war es schlimm genug, dass wir uns in die Höhlen
zurückziehen und warten mussten, bis sie die Geduld verließ.«
Andrej blickte Meruhe weiter aufmerksam an. Er hatte gerade wieder etwas über diese sonderbare Frau gelernt. Sie mochte undurchschaubar, geheimnisvoll und faszinierend sein, aber eines war sie
nicht: eine gute Lügnerin. Und jetzt hatte sie gelogen.
»Sie haben niemals mehr genommen, als unser Volk verkraften
konnte«, fuhr sie fort. »Aber seit einer Weile…«, sie schwieg, warf
einen kurzen, aber sehr nachdenklichen Blick in Richtung des Sklavenhändlers und hob dann die Schultern, »… hat sich das geändert.
Als sie die letzten Male gekommen sind, haben sie sich nicht mit
dem zufrieden gegeben, was sie freiwillig bekommen hätten. Ich
musste mein Volk in die Höhlen führen, um es vor ihnen in Sicherheit zu bringen.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Andrej, wobei er durchaus registrierte, dass sie die Dorfbewohner ganz selbstverständlich als ihr Volk bezeichnet hatte. »Was sind das für Höhlen?«
»Höhlen eben«, antwortete Meruhe leichthin und auf eine Weise,
die Andrej in seiner Überzeugung bestärkte, dass sie keine besonders
gute Lügnerin war. »Es ist ein uraltes Gewirr aus Stollen und Gängen, das zum allergrößten Teil auf natürliche Weise entstanden ist.
Manches wurde von Menschen angelegt, aber niemand weiß mehr,
von wem oder zu welchem Zweck oder wann.«
»Niemand - außer dir«, vermutete Andrej.
Meruhe wirkte ein wenig verwirrt, dann aber lachte sie und schüttelte wieder den Kopf. »Weil ich mich dort auskenne, meinst du? Oh
nein, Andrej, jetzt versuchst du, etwas in mir zu sehen, was ich nicht
bin. Ich kenne diese Höhlen, weil ich darin aufgewachsen bin, so
einfach ist das. Ich glaube, ich bin sogar darin geboren worden, aber
ganz sicher bin ich nicht.«
»Wie kann man nicht sicher sein, wo man geboren ist?«, fragte Andrej.
»Weißt du es denn?«, gab Meruhe zurück. Andrej wollte nicken,
doch sie unterbrach ihn mit einer raschen Geste und fuhr fort: »Weißt
du es, weil man es dir
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