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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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überheblich, drohend oder spöttisch.
»Du warst noch nie in diesem Land, habe ich Recht?«, fragte sie.
Andrej verstand nicht so recht, was das mit dem Umstand zu tun
haben sollte, dass ihm seine Sinne offensichtlich einen bösen Streich
spielten, aber er antwortete so wahrheitsgemäß auf ihre Frage, wie er
konnte. »Abu Dun und ich waren in Kairo. Aber das ist lange her.«
So lange lag es noch gar nicht zurück. Vielleicht ein Jahr, möglicherweise nicht einmal das. Für Abu Dun und ihn bedeutete das Verstreichen der Jahreszeiten, Monate oder Wochen nicht viel, hatten sie
doch schon vor langer Zeit begonnen, ihre Lebensspanne in Generationen zu rechnen.
Trotzdem achtete er normalerweise streng darauf, zu wissen, wo
auf dem endlosen Pfad der Zeit sie sich gerade aufhielten.
Seit sie in dieses Land gekommen waren, in dem ein Tag wie der
andere zu sein schien und in dem es keine Jahreszeiten und keinen
Wechsel von Sommer zu Winter gab - jedenfalls keinen, den er bewusst festzustellen vermochte -, hatte sein Verständnis für die Zeit zu
verschwimmen begonnen. Abu Dun hatte ihm einmal erzählt, dass
sein Volk nahezu ein Jahrtausend über das Land geherrscht hatte, das
den Großteil der Libyschen Wüste für sich beanspruchte. Selbst für
einen Mann wie ihn war das eine unvorstellbar lange Zeit, und es war
Andrej immer schwer gefallen, das wirklich zu glauben. Seit er seinen Fuß auf den staubigen Boden Ägyptens gesetzt hatte, dieses
Land, das so ganz anders war als seine Heimat, hatte er sich eingestanden, dass er dem Nubier vermutlich Unrecht getan hatte. Ein
Jahrtausend schien ihm hier nicht dasselbe zu sein wie in der Welt, in
der er geboren und aufgewachsen war. War es möglich, dass die Bedeutung der Zeit wechselte, wenn man zu einem anderen Volk gehörte?
»Kairo«, wiederholte Meruhe, und sie tat es auf eine sonderbare
Art, als wäre sie nicht ganz sicher, was dieses Wort überhaupt bedeutete, fuhr dann aber mit einem Kopfschütteln fort, »ist nicht dieses
Land, ganz egal, was seine Bewohner auch sagen.«
»Aha.« Andrej verstand nicht genau, was Meruhe damit meinte. Ihrem schwarzen Gesicht war nicht anzusehen, wie sie sich fühlte. Aber sie musste ebenso erschöpft sein wie er; eigentlich deutlich mehr,
denn im Gegensatz zu ihm war sie ein sterblicher Mensch.
»Dieses Land ist anders als alle anderen, die du vielleicht kennst,
Andrej«, fuhr sie so energisch fort, als müsse sie einen möglichen
Einspruch schon im Keim ersticken. »Es kann dich innerhalb eines
einzigen Lidschlags töten, es kann zu dem mächtigsten Feind werden, den du dir auch nur vorstellen kannst, und es ist unbarmherzig
und grausam.« Sie warf einen raschen Blick nach rechts und links,
wie um sich davon zu überzeugen, dass diese Behauptung unwidersprochen blieb, bevor sie mit einem Lächeln fortfuhr: »Aber wenn du
es einmal kennst, wenn du es so akzeptierst, wie es ist, und dich nach
seinen Regeln richtest, dann ist es auch dein Freund und der mächtigste Verbündete, den du dir nur denken kannst.«
Wenn das stimmt, dachte Andrej, dann mussten sie wohl gegen ein
paar grundsätzliche Regeln verstoßen haben, denn das, was Meruhe
als mächtigen Verbündeten bezeichnete, tat im Moment alles in seiner Macht Stehende, um ihnen das Leben schwer zu machen. Es hatte scheinbar endlos gedauert, bis die Sonne endlich aufgegangen war,
und dann war aus der bitterkalten Nacht binnen weniger Augenblicke
ein ebenso grausam heißer Tag geworden. Sie waren längst abgesessen und führten die Pferde nun am Zügel neben sich, mit Ausnahme
einiger weniger Männer und Frauen, die einfach nicht mehr die Kraft
hatten, zu gehen. Selbst Andrej spürte, dass ihm jeder Schritt ein
kleines bisschen schwerer zu fallen schien als der vorherige. Die Hitze war unerträglich geworden, obwohl die Sonne ihren höchsten
Stand noch lange nicht erreicht hatte. Andrej hätte damit gerechnet,
dass sie sich durch die Dünentäler bewegten, doch das genaue Gegenteil war der Fall.
Meruhe ließ sie in einer lang auseinander gezogenen, durchbrochenen Kette über die Dünenkämme marschieren, und Andrej hatte nach
anfänglichem Zögern eingestehen müssen, dass sie Recht damit hatte. Hier oben hatten sie wenigstens einen guten Überblick über das
Land, und es war auch nicht heißer als zwischen den gewaltigen,
erstarrten Wogen dieses trockenen Ozeans. Wenn es in diesem Land
jemals so etwas wie Schatten gegeben hatte, dann hatte die Sonne ihn

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