Die Verfuehrung Des Ritters
Als er sich wieder aufrichtete, hielt er den größten Langbogen in der Hand, den sie je gesehen hatte. Zugleich zog er einen von drei Pfeilen aus seinem Gürtel. Dann hob er den Bogen, spannte die Sehne, bis sie fast sein Kinn berührte, und blickte am Pfeil entlang auf seine Gegner.
De Louth hob einen Arm, und die ihm folgenden Reiter parierten ihre Pferde. »Wir wollen nur die Lady, du Halunke!«, rief er laut. »Wir werden dich nicht dem Sheriff übergeben oder dich anderweitig belangen. Mein Wort darauf. Gib uns einfach nur die Frau.«
Plötzlich durchbrach ein lautes Lachen die herrschende Stille. »Und ich verspreche Euch auch etwas: Ihr werdet ohne die Lady von hier verschwinden. Wenn Ihr versucht, sie mit Euch zu nehmen, wird Euer Blut die Straße Eures verlogenen Königs tränken. Ihr werdet ohne sie gehen. Und jetzt verschwindet.«
Gwyn zuckte zusammen. Die Straße Eures verlogenen Königs?
»Nicht ohne die Frau.«
Der Fremde senkte das kantige Kinn und sah seinen Gegner unverwandt an. »Die Lady bleibt.«
Einer von de Louths Männern trieb sein Pferd vorwärts. Das Bild des furchtlosen Ritters abzugeben schien ihm verlockender zu sein, als auf seinen Verstand zu hören. Ein Pfeil sirrte durch die Luft und drang dem Mann in die Kehle. Er rutschte röchelnd aus dem Sattel und krümmte sich im Fallen. Gwyn erhaschte einen Blick auf eine gezackte Pfeilspitze, die, in Rot
gebadet, an der Nackenseite des Halses hervortrat. Ein letztes Mal zuckten die blutbesudelten Hände des Soldaten, ein erstickter Schrei erklang, dann fiel er zur Seite und blieb tot auf der Straße liegen.
Die anderen vier Männer starrten ihren Gegner überrascht an. Doch der hatte bereits den nächsten Pfeil in den Bogen gespannt. Stille breitete sich aus. Die Bedingungen waren klar: Wenn die Männer sich zurückzögen, würden keine Pfeile mehr abgeschossen. Aber sie würden nicht gehen.
»O mein Gott«, hauchte Gwyn und berührte den Fremden am Arm. »Ihr habt einen von Marcus' Männern getötet. Er wird darüber nicht erfreut sein.«
Ein gutes Stück von ihnen entfernt stieg de Louth jetzt aus dem Sattel, ging zu dem Toten und versetzte ihm einen Tritt in den Rücken.
»Was d'Endshire erfreut, war noch nie meine Sorge.«
Sie zwang sich, ihm in das von Schatten verhüllte Gesicht zu sehen. »Ihr seid entweder dumm oder verrückt. Lasst mich Euch von den Dingen erzählen, die Marcus erfreuen. Einmal war er über den Tod seines Zwergfalken so erzürnt, dass er seinen Falkner d'Aubry mit Honig beschmieren ließ und ihn dann fünf Tage lang gefesselt auf einem Ameisenhügel liegen ließ. D'Aubry ist nie zurückgekehrt.
Zumindest nicht im Ganzen.«
Er sah sie an.
»Seitdem lässt Marcus zu jeder Mahlzeit Honig servieren. Gewärmten Honig«, fügte sie hinzu.
Er zuckte mit den muskulösen Schultern. »Wie ich schon sagte, sind d'Endshires Vergnügungen nicht meine Sorge«, murmelte er, und etwas, das sich fast wie Freude anfühlte, ließ Gwyn das Herz höher schlagen.
De Louth bückte sich jetzt und zog den Pfeil aus dem Toten. Er betrachtete ihn eingehend. Etwas Silbriges blitzte auf, als der Mond für einen Moment hinter den Wolken auftauchte.
De Louth ließ den Pfeil fallen und stieg wieder in den Sattel.
Gwyn zog sich ihren Umhang fester um die Schultern. »Ich sollte Euch dazu überreden, diese Angelegenheit mir zu überlassen. Geht lieber, solange Ihr noch mit heiler Haut davonkommen könnt.«
»Ich werde nicht gehen.«
»Und ich möchte nicht, dass Ihr wie d'Aubry, der Falkner, endet.«
»Was mit mir geschieht, liegt nicht in d'Endshires Ermessen.« Er sah zu ihr herunter.
Sein Mund verzog sich zu einem winzigen Lächeln. »Außerdem bevorzuge ich Süßeres als Honig, Mylady.«
Sie wollte das Lächeln erwidern und hätte es wohl auch getan, wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätte, dass es unter diesen Umständen einfach nicht richtig gewesen wäre.
De Louth richtete sich im Sattel auf, wandte sich an seine Männer und sagte leise etwas zu ihnen.
»Also dann«, sagte Gwyn und straffte die Schultern. »Wenn Ihr so sehr darauf erpicht seid, Eurem Tod ins Auge zu sehen, will ich nicht undankbar scheinen.«
Keiner von beiden wandte den Blick von den mit Schwertern bewaffneten Soldaten, die leise miteinander sprachen.
»Habt Ihr eine Waffe?«, fragte der Fremde.
»Einen Stein.«
»Einen Stein? Wisst Ihr, wie man einen wirft?«
»Ob ich weiß, wie man einen Stein wirft? Na, hört mal! Man ... wirft ihn
Weitere Kostenlose Bücher