Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
zu glauben. Können Kinder so viel Gewalt und Leid einfach wegstecken, nach dem Motto »Schwamm drüber«? Sind Kinderseelen in Wahrheit weit weniger verletzlich als allgemein angenommen? Stimmt es vielleicht doch, wovon frühere Generationen überzeugt waren: dass Kinder äußerst robust sind? Schwer vorstellbar. Um das zu glauben, müssten wir unser gesamtes Wissenüber die seelische Verletzbarkeit im frühen Kindesalter über Bord werfen.
Aber was war geschehen? Wurden diese Kinder etwa zum Verstummen gebracht? »Genauso war es«, bestätigte eine Kriegswaise aus Ostpreußen. »Man hat uns schon in ganz jungen Jahren beigebracht: Darüber spricht man nicht. Das erzählt man nicht. Schau nach vorn! Sei froh, dass du noch lebst. Vergiss alles! Und das haben die meisten von uns getan. Um zu überleben und nicht am Rande stehen zu bleiben ein Leben lang, muss man sich anpassen. Wenn man sagt: Ich habe eine schlechte Kindheit gehabt, und mich verfolgt meine Kindheit – das stempelt einen doch nur ab.«
Die Erwachsenen dagegen klagten alle, wie in den Romanen und Aufzeichnungen über die ersten Nachkriegsjahre nachzulesen ist. Doch als es danach überraschend schnell wieder bergauf ging – zumindest in Westdeutschland –, wurde in den Familien kaum noch über den Krieg gesprochen, und noch weniger über die Verbrechen der Nazis.
Manchmal fielen lakonische Sätze, die nur für Außenstehende makaber klangen: »Unser Kurt wurde 43 in Düsseldorf geboren. Das hat gut geklappt. Zwischen zwei Bombenangriffen.« Schwarzer Humor galt schon immer als ein Ventil für Menschen, die knapp mit dem Leben davongekommen waren.
Phantasiediagnose »vegetative Dystonie«
Damit keine Missverständnisse entstehen: Dass es Menschen mit seelischen Kriegsverletzungen gab, wurde in Deutschland nie bestritten, aber es wurde eben auch nicht an die große Glocke gehängt. Der Freiburger Psychoanalytiker und Schriftsteller Tilmann Moser (»Dämonische Figuren«) vermutet in der Tatsache, dass in Westdeutschland das Kurwesen so weit verbreitet war wie in keinem anderen Land, stillschweigende Angebote der Linderung für die Menschen, die noch immer an Kriegsfolgen litten.Die im Ausland völlig unbekannte Phantasiediagnose »vegetative Dystonie« reichte in den Sechzigern und Siebzigern den Krankenkassen als Begründung aus, um eine Kur zu bewilligen.
Allerdings: die Kinder dieses Krieges waren heil davongekommen – darüber schien man sich, wiederum stillschweigend, sehr früh in der Bevölkerung geeinigt zu haben. Das Titelfoto eines Bildbandes über sogenannte »Ruinenkinder« aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigt zerlumpte, aber lebensfrohe kleine Gestalten – ganz anders als die bedrückten Kindergesichter, deren Bilder uns aus den Kriegsgebieten des Balkans und aus Afghanistan erreichten.
Was ist in Deutschland atypisch gelaufen? Man würde es gern wissen, aber die Forschung kann dazu kaum etwas sagen. Mediziner, Psychologen und Historiker haben sich bislang sehr zurückgehalten, wenn es darum ging, diese Generation in den Blick zu nehmen.
Dennoch, die Zeiten haben sich geändert. Heute sind die Kriegskinder nicht mehr ganz so unauffällig, wie sie es jahrzehntelang waren. Seit der Kosovo-Erschütterung im Jahr 1998, als erstmals nach 1945 deutsche Soldaten wieder an einem Krieg beteiligt waren, und seit der Nobelpreisträger Günter Grass mit seinem Bestseller »Im Krebsgang« dafür plädierte, dass die Deutschen nun auch ihre eigenen unverarbeiteten Kriegsverletzungen in den Blick nehmen sollten, ist ein Tabu gelockert worden. Dafür spricht auch der überraschende Erfolg des Buchs »Der Brand«, in dem der Historiker Jörg Friedrich schonungslos den Bombenkrieg über Deutschland beschreibt.
Im Alter rückt die Kindheit wieder näher. Da hat man das Bedürfnis und endlich auch die Zeit, sich mit seinen Wurzeln und den frühesten Eindrücken zu beschäftigen. Das geschieht aber nicht immer freiwillig. In Deutschland wurden vor allem während des Kosovokonflikts, auch am 11. September 2001 und während der Bombardierungen in Afghanistan und im Irak viele ältere Menschen mit Kriegserinnerungen überschwemmt, oft in quälender Weise, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten.
Mehr denn je interessieren sich die Medien für die deutschen Opfer, für die großen Katastrophen wie den Untergang der »Wilhelm Gustloff«, die Zerstörung Dresdens, Flucht und Vertreibung. Dabei werden als Zeitzeugen auch die Kinder des Zweiten
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