Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Österreich, wo die Kinder des Krieges offenbar einem ähnlich großen Schweigen ausgesetzt waren wie hierzulande. Besonders überrascht haben mich aber die Briefe von Auslandsdeutschen. Ihr Tenor: Da lebe ich so viele Tausend Kilometer von Deutschland entfernt, aber der Krieg holt mich immer wieder in meinen Träumen ein.
Seit sechs Jahren treffe ich bei Lesungen auf Kriegskinder und werde regelmäßig Zeugin davon, wie emotionale Schrankenplötzlich überwunden werden. Konflikte zwischen Kriegskindern und ihren Kindern, die oftmals bei den Lesungen dabei sind, brechen auf. Familien finden Worte für das, was bisher im Unterbewusstsein der Kriegskinder rumorte und ganze Generationen verstummen ließ. Solche Begegnungen waren ausschlaggebend dafür, die »Vergessene Generation« um ein Kapitel zu erweitern. Sie zeigen, wie aktuell das Thema nach wie vor ist.
Die Medien lassen das Thema nicht ruhen. Mit unzähligen Beiträgen halten sie das Interesse wach, Tendenz steigend. Das lässt hoffen, dass in nicht allzu ferner Zukunft auch jene Regionen ausgeleuchtet sein werden, die heute noch im Dunkeln liegen. Noch nie waren Vertreibung und Luftkrieg im deutschen Bewusstsein so lebendig wie heute. Als »Die vergessene Generation« 2004 erschien, lautete der letzte Satz der Einführung: »Wir stehen erst am Anfang.«
Das hat sich gründlich geändert.
Wir stehen nicht mehr am Anfang.
Dank
Mein ganz besonderer Dank geht an die »Kriegskinder« und deren Kinder, die mir ihre Lebensgeschichten anvertrauten. Ohne ihre Offenheit hätte ich nie erfahren, wie es in ihrer so lange verschwiegenen Welt aussieht. Darüber hinaus möchte ich Luise Reddemann für ihr Nachwort danken und weil sie mir bei meinen Recherchen den Rücken stärkte. Dankbar bin ich auch Axel Becker, Heinz Beyer, Theo Dierkes, Peter Heinl, Curt Hondrich, Bernward Kalbhenn, Peter Liebermann, Ralph Ludwig, Christa Pfeiler-Iwohn, Fritz Roth, Dierk Schäfer, Joachim Schmidt von Schwind, Helga Spranger, Irene Wielpütz. Sie alle halfen mir durch Ermutigung und Austausch, durch Anregungen oder die Chancen der Veröffentlichung und ihre Bereitschaft, sich immer wieder mit einem schwierigen Thema zu beschäftigen.
ERSTES KAPITEL
Millionen Kriegskinder unter uns
Was der Kalte Krieg verhinderte
Je länger der Berliner Mauerfall zurückliegt, desto deutlicher wird, dass die Nachkriegszeit in Deutschland erst 1989 zu Ende gegangen ist. Durch die Wiedervereinigung wurden die letzten politischen Kriegsfolgen beseitigt und – wie sich dann einige Jahre später zeigte – Raum geschaffen für gesellschaftliche Themen, die durch das Klima des Kalten Krieges nicht an die Oberfläche gedrungen waren.
Das jeweilige Auftreten der Ideologie West gegen Ideologie Ost und umgekehrt war so selbstgerecht und laut und so sehr auf Einschüchterung programmiert, dass Nachdenklichkeit, feine Schattierungen und leise Töne davon regelrecht aufgesaugt wurden. In der deutschen Bevölkerung, im Westen wie im Osten, hatte die Hochrüstung über die Jahre neue Ängste ausgelöst – vermutlich wurden auch deshalb die kollektiven Bedrohungsgefühle, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, nicht wirklich wahrgenommen und verarbeitet. Man kann sagen: Über fünf Jahrzehnte wurde in beiden deutschen Staaten wenig über die seelische Hinterlassenschaft des Krieges nachgedacht. Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Bundesrepublik von Lebensängsten geplagt wurde, der galt, je nach seiner sozialen Umgebung, als neurotisch oder als ein sensibler Zeitgenosse, der den Rüstungswahn der beiden Blöcke einfach nicht länger verdrängen konnte. In der DDR gab die SED die stramme Richtung vor, dass die Bürger gut daran täten, an die »unbesiegbare Sowjetmacht« zu glauben, denn dann gebe es auch keinen Grund, sich zu fürchten.
Auf dem Höhepunkt einer Diskussion in Köln um den sogenannten NATO-Doppelbeschluss rief eine Hausfrau ins Mikrofon: »Heutzutage kann doch schon eine Fluse im Computer den Dritten Weltkrieg auslösen!« Eine absurde Übertreibung? DieInformationen, über die wir heute verfügen, geben der Frau im Nachhinein recht. Hätte ein falscher Alarm den Befehl für einen Atombombeneinsatz ausgelöst, wären noch genau zwanzig Minuten Zeit geblieben, um die Lage einzuschätzen und den GAU zu verhindern.
Ich selbst gehöre jenem Teil der Nachkriegsgeneration an, der sich, je nachdem, welches politische Thema gerade Konjunktur hatte, zwischen »Nie wieder Krieg!« und
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