Die Vergessenen
verspannte sich durch ein nagendes Schuldgefühl,und auf einmal fühlte er sich gar nicht mehr wohl und auch nicht mehr distanziert oder nervös. Deutlich sah er vor sich Sanders im eigenen Blut liegen. Er hatte der Frau den Hals durchgeschnitten, jener Frau, die so lange für ihn gesorgt hatte, und dass sie auf der Seite des Feindes gestanden hatte, trug nicht im Mindesten dazu bei, das Schuldgefühl zu schwächen. Nicht mal sein Wahnsinn erschien ihm als Ausflucht, und das Leiden, das er sich selbst zugefügt hatte, nicht als Sühne. So stark war dieses Gefühl, dass er die Last von Tränen hinter seinem Gesicht, seinem wiederhergestellten Gesicht aufsteigen spürte. Jetzt zu weinen, das hätte auf ihn jedoch wie Nachsicht mit sich selbst gewirkt, wie Selbstmitleid und kindische Leugnung der eigenen Verantwortung. Er versuchte, Abstand dazu zu gewinnen, um besser analysieren zu können und die frühere Distanz zurückzuerlangen, aber sie wollte sich einfach nicht einstellen.
»Nenn es … eine Katharsis«, sagte Grant.
»Du machst wohl Witze.«
»Was weißt du von ihm?«
»Er ist ein ehemaliger Proktor und hat einen Angriff des Technikers überlebt, weshalb du ihm das Leben gerettet hast. Seine Erlebnisse trieben ihn tief in den Wahnsinn, und er verbrachte die zurückliegenden zwanzig Jahre in der Überzeugung, die Theokratie existierte noch. Mir erscheint auch die Annahme plausibel, dass Gedankentechs der Polis nicht in seine Nähe vorgelassen wurden, weil der Techniker vielleicht, nur vielleicht, etwas mit seinem Verstand angestellt hat.«
»Damit hast du es in etwa richtig hinbekommen«, sagte Grant.
»Habe ich deine Erlaubnis, das an Earthnet weiterzuleiten?«
»Zeichnest du in diesem Augenblick auf?«
»Ich zeichne fortwährend auf – habe eine Direktverbindung zu meinem Sehzentrum, worüber ständig ein Download in einen Terabyte-Speicher läuft.«
»Benötigst du eine Erlaubnis?«
»Im Grunde nicht – alles durchläuft ohnehin eine Sicherheitsprüfung durch die Nachrichtensender-KIs.«
»Inwiefern?«
»Im Hinblick auf Verdrehung von Tatsachen durch Methoden der Berichterstattung, durch Reporter-Narrative und sich anschließendes Umkopieren von Teilen. Ich frage dich lediglich persönlich.«
»Dann kannst du also senden, aber nur nach vorheriger Prüfung durch Amistad.«
»Amistad?«
»Frag Ergatis.«
Jem öffnete ansatzweise ein Auge und sah, wie sie den Kopf schief legte und ihre Miene leicht abwesend wirkte. Ihm wurde klar, dass sie über ihren Verstärker ein Gespräch führte, da endete dieses Gespräch auch schon und sie widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Soldaten.
»Mir wurde gesagt, dass sich Amistad nicht dafür interessiert, was ich an Earthnet weiterleite, aber dass es bei dir liegt, ob ich dich begleiten und dabei weiter Bericht erstatten darf«, erklärte sie.
Er tippte mit dem Finger auf einen Kommunikator, den er im Ohr trug. »So wurde es auch mir gesagt.«
»Und wie lautet deine Antwort?«
»Wie wichtig ist es dir, Shree?«
Sie verschob ein Glas auf dem Tisch, als wäre es ein Spielstein in irgendeinem Brettspiel. »Du weißt ja, wie das ist – man widmet sein Leben der Rebellion, dem Kampf gegen die Theokratie, und sobald der Sieg errungen wurde, bleibt ein großes Loch in dir zurück. Manche von uns erholen sich nie wieder davon – Leute wie die Overlander und das Aufräumkommando sind extreme Beispiele dafür, wie sehr man sich an die Vergangenheit klammern kann.« Sie verschob das Glas erneut, schachmatt. »Indem ich in den zurückliegenden zwanzig Jahren zeitweise als Korrespondentin für Earthnet arbeitete, fand ich eine Möglichkeit, dieses Loch zu füllen, aber es existieren so viele Einschränkungen für das, was ich berichten darf, und so vieles, was ich unter die Lupe genommen habe, wurde von Earthnet einfach verworfen, dass die Sache dadurch für mich schwierig wurde.« Sie blickte zu Grant auf. »Das jetzt ist wirklich mein großer Durchbruch.«
»Okay, ich verstehe«, sagte er, »aber ich möchte ein Mitspracherecht bei dem haben, was du sendest. Du kannst deine Reportage nicht in Echtzeit übermitteln – sondern jeweils am Ende eines Tages, sobald ich Gelegenheit hatte, ein Veto zu einzelnen Inhalten einzulegen.«
»Das ist unter solchen Umständen üblich. Dein Vetorecht beginnt mit dem Zeitpunkt, an dem du einfach in der Lage bist, mich zu verlassen«, sagte sie, lächelte dann, packte Grants Kinn und drückte ihm einen Kuss auf die
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