Die Vergessenen
durcheinandergeraten war. Er starrte die beiden Personen in seiner Nähe an und erkannte sie von außerhalb des Schiffs wieder, aber auf einer tieferen Ebene konnte er sie einfach nicht einordnen. Sie waren so seltsam geformt: klein, Gliedmaßen mit simpler Gelenkstruktur, flache Gesichter und nur jeweils zwei Augen – fast wie etwas, das ein Kind zusammengesetzt hatte.
»Earthnet«, sagte einer der beiden. »Du arbeitest jetzt für Earthnet?«
Die Worte waren seltsam klar zu vernehmen, und eine Sekunde später wusste Jem auch, woran das lag. Das Murmeln war verschwunden, dieses konstante Hintergrundgeräusch wie von einer Diskussion, die ein Zimmer weiter geführt wurde.Die Stimme des Mannes machte diesen für Jem auch insgesamt deutlich erkennbar: Leif Grant, Kommandeur der östlichen Rebellenstreitkräfte, das erste menschliche Gesicht, das Jem diesseits der Peinigung durch den Techniker und dieses Stroms aus euklidischen Formen erblickt hatte. Damals hatte er den Mann nicht erkannt, aber jetzt wusste er wieder, dass Grant schon einige Zeit auf der Todesliste der Theokratie gestanden hatte. Die Frau kannte er nicht. Vielleicht gehörte sie zur Crew des Polisraumschiffs – jedenfalls sah sie viel zu sehr nach Mensch aus, um zu den Fahrgästen zu gehören.
»Ich hätte volles Verständnis dafür, wenn du mir sagtest, ich sollte sofort verschwinden, Leif«, erklärte sie. »Aber da ich die Genehmigung hatte, eine Aufnahme der Ereignisse da draußen zu senden, ist die Story ins Riesenhafte gewachsen, und jemand muss wirklich darüber berichten. Falls ich die Story liefere, wird Earthnet in die Lage versetzt, sie stückweise an andere Nachrichtensender zu verkaufen, und du brauchst dann nicht zu befürchten, dass dich noch mehr Reporter belästigen.«
Grant starrte sie unverwandt an. »Reporter sind keine Last, solange man es nicht zulässt. Ich kapiere einfach nur nicht, warum er dir den Zutritt erlaubt hat.«
Er deutete zur Seite hin auf etwas Schwarzes und Scharfkantiges in diesem bunten Paradies. Jem konzentrierte sich auf dieses Ding, wusste aber nicht recht, was er mit der Form anfangen sollte, die der Dämon inzwischen angenommen hatte. Er hatte sich auf ein abgeflachtes Ovoid reduziert, mit scharfen Kanten, glitzernden Vorsprüngen, eingeweideartigen metallischen und glasartigen Falten – fast so etwas wie ein Metallgehirn, aus dem allmählich Obsidiankristalle herauswuchsen. Trotzdem wirkte dieses seltsame Etwas fast logischer als die beiden Menschen. Eine Bewegung neben dem Ding lenkte Jems Aufmerksamkeit dorthin.
Jem starrte verwirrt an, was er dort sah, und verstand es einfach nicht, erfüllt von quälendem Grauen vor dem Ding. Dann wurde ihm unvermittelt klar, was das war: ein Stechapfel, ein Stechapfelbaum – wie er sie vom Garten seines Bischofs kannte. Es war jedoch nicht die Bewegung der langen trompetenförmigen rosa Blüten, was seine Aufmerksamkeit geweckt hatte, sondern der schwirrende Flug eines himmelblauen Kolibris, der gerade vom Nektar speiste. Völlig fasziniert folgte Jem dem Flug des Vogels von einer Blüte zur nächsten, als sähe er hier etwas zum ersten Mal in seinem Leben überhaupt.
»Hat er es dir nicht erklärt?«
Die beiden Menschen saßen an einem von einer Anzahl Tischen in dem eingeschlossenen Garten, etwas erhöht von Jems Position, aber ganz in seiner Nähe, und eine Flasche und zwei Gläser standen zwischen ihnen auf dem Tisch. Er selbst war auf einer Art Liege ausgestreckt. Dieser Ort ähnelte mit seiner Sammlung exotischer Pflanzen und behaglicher Möbel tatsächlich einem Bischofsgarten, obwohl Jem keinerlei Wände sah und die Decke wie ein blauer Himmel wirkte, an dem eine gelbliche Sonne brannte – ein Himmel, den etwas tief in ihm wiedererkannte, obwohl er so einen noch nie gesehen hatte.
»Wie du siehst, hat sich Penny Royal abgeschaltet«, sagte Grant. »Er hält sich nicht gern an Bord dieses Schiffs auf – möchte nicht, dass dessen KI sich ihn näher ansieht.«
Die Frau drehte sich jetzt zu Jem um, der schnell die Augen schloss und so tat, als schliefe er, was leicht fiel, wenn man auf einem so lächerlich bequemen Möbelstück lag.
»Also, was zur Hölle ist dort passiert?«, fragte sie.
Hölle, wohl wahr, dachte Jem. Er hatte versucht, sich das eigene Gesicht herunterzuschneiden. Ja, das eigene Gesicht – die Prothese hatte man ihm vor langer Zeit abgenommen, und mithilfe von Polistechnik hatte Sanders sein Fleisch nachgezüchtet.
Jems Bauch
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