Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
Kirche erlebten, auch wenn deren Begeisterung wahr scheinlich eher dem jungen Kaplan galt als dem Wort Gottes. Jedenfalls, als sie mit klopfendem Herzen auf ihrem billigen Platz gesessen hatte und das Drama auf der Bühne seinen Gang nahm und sie in ihren Bann schlug, da hatte sie es plötzlich gewusst. Sie hätte nicht genau sagen können, was es war, aber sie war sich ganz sicher gewesen: Das Leben hatte mehr zu bieten, und was auch immer es sein mochte, es wartete auf sie.
Sie hatte ihr Geheimnis für sich behalten, unsicher, was sie damit anfangen sollte, wem in aller Welt sie es erklären sollte, bis sie es am vergangenen Samstag, in seinen Arm geschmiegt, die Wange an seine Lederjacke gepresst, Billy anvertraut hatte …
Laurel nahm seinen Brief aus dem Buch und las ihn noch einmal. Er war kurz, Billy teilte ihr darin nur mit, dass er am Samstagnachmittag um halb drei mit seinem Motorrad am Ende der Straße auf sie warten würde – er wolle ihr eine Stelle an der Küste zeigen, seine Lieblingsstelle.
Laurel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nur noch zwei Stunden.
Er hatte genickt, als sie ihm von der Aufführung der Geburtstagsfeier erzählt hatte und wie sie sich dabei gefühlt hatte; er hatte von London und vom Theater gesprochen, von all den Bands, die er in namenlosen Nachtklubs gehört hatte, und Laurel war ganz schwindelig geworden angesichts der ungeahnten Möglichkeiten, die sich vor ihr auftaten. Dann hatte er sie geküsst. Es war ihr erster richtiger Kuss gewesen, und in ihrem Kopf war ein Feuerwerk explodiert, bis sie nur noch weißes Licht gesehen hatte.
Laurel rollte sich auf die Seite, um in den kleinen Handspiegel schauen zu können, den Daphne dort aufgestellt hatte. Sie betrachtete die winzigen schwarzen Pünktchen, die sie sich mit äußerster Sorgfalt in die Augenwinkel gemalt hatte. Zufrieden, dass sie noch kein bisschen verwischt waren, richtete sie ihren Pony und versuchte, das dumpfe, nagende Gefühl abzuschütteln, dass sie etwas Wichtiges vergessen haben könnte. Ein Badetuch hatte sie eingesteckt, den Badeanzug trug sie schon unter ihrem Kleid; ihren Eltern hatte sie erzählt, Mrs. Hodgkins hätte sie gebeten, ein paar Stunden außer der Reihe im Salon aufzuräumen und zu putzen.
Laurel knabberte sich einen Hautfetzen vom Nagelbett. Diese Heimlichtuerei war eigentlich nicht ihre Art; sie war ein wohlerzogenes Mädchen, das sagten alle – ihre Lehrer, die Mütter ihrer Freundinnen, Mrs. Hodgkins –, aber was blieb ihr übrig? Wie sollte sie das alles ihrer Mutter oder ihrem Vater erklären?
Sie war sich ganz sicher, dass ihre Eltern sich nie richtig geliebt hatten, egal was sie ihr für Geschichten darüber erzählten, wie sie sich kennengelernt hatten. Das heißt, sie liebten sich natürlich auf ihre Weise, aber das war die Liebe zwischen alten Leuten, die sich darin äußerte, dass man einander die Schulter tätschelte und gemeinsam Tee trank. Nein – Laurel seufzte mit einem wohligen Schauder. Man konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass die beiden nie die andere Art Liebe gekannt hatten, das Feuerwerk der Gefühle, das Herzklopfen, die körperliche Begierde.
Ein Windstoß trug das Lachen ihrer Mutter herüber, und das Bewusstsein, so vage es auch sein mochte, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens angelangt war, erfüllte sie mit Zuneigung. Die liebe Ma. Es war nicht ihre Schuld, dass sie den größten Teil ihrer Jugend an den Krieg verschwendet hatte. Dass sie schon fast fünfundzwanzig gewesen war, als sie geheiratet hatte; dass sie immer noch mit Begeisterung Papierschiffchen bastelte, wenn die Kinder einmal Langeweile hatten; dass das schönste Erlebnis in diesem Sommer für sie war, dass sie den ersten Preis des örtlichen Gartenbau-Vereins gewonnen hatte und ein Foto von ihr in der Zeitung erschienen war, und zwar nicht nur im Lokalblatt – der Artikel war sogar in Londoner Zeitungen abgedruckt worden, als Teil einer Serie über besondere Ereignisse im ländlichen England. (Shirleys Vater, ein Rechtsanwalt, hatte die Zeitung mitgebracht, um allen den Artikel zu zeigen.)
Laurels Ma hatte so getan, als wäre es ihr peinlich, und sie hatte protestiert, als ihr Daddy den Artikel an den neuen Kühlschrank geklebt hatte, aber sie hatte ihn auch nicht wieder abgenommen. Nein, sie war mächtig stolz auf ihre besonders langen Stangenbohnen, und genau das war es, was Laurel meinte. Sie spuckte ein winziges Stückchen Fingernagel aus. Irgendwie schien es ihr
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