Die verlorenen Spuren: Roman (German Edition)
menschlicher, jemanden, dessen ganzer Stolz Stangenbohnen waren, mit einer Notlüge zu täuschen, als ihn zu der Einsicht zu zwingen, dass die Welt sich geändert hatte.
Laurel hatte keinerlei Erfahrung mit Notlügen. In ihrer Familie standen sich alle sehr nahe. Das war allgemein bekannt. In den Augen der Leute hatten die Nicolsons sich der äußerst verdächtigen Sünde schuldig gemacht, einander wirklich zu lieben und zu respektieren. Aber in letzter Zeit hatte sich irgendetwas geändert. Zwar benahm Laurel sich wie immer, aber es fühlte sich an, als würde sie nicht mehr dazugehören. Sie runzelte die Stirn, als die Sommerbrise ihr ein paar einzelne Haare ins Gesicht blies. Wenn sie beim Abendessen saßen und ihr Vater seine üblichen Witze machte, die keiner lustig fand und über die sie trotzdem lachten, kam sie sich vor wie eine Zuschauerin; als säßen die anderen in einem Zugabteil und ließen sich von dem vertrauten Rhythmus einlullen, während sie allein am Bahnhof stand und ihnen hinterherschaute.
Nur dass sie es war, die weggehen würde. Und zwar schon bald. Sie hatte sich alle nötigen Informationen besorgt: Sie würde auf die Central School of Speech and Drama gehen. Was würden ihre Eltern wohl sagen, wenn sie ihnen erklärte, dass sie sich entschlossen hatte, von zu Hause fortzugehen? Sie waren beide alles andere als weltgewandt – ihre Mutter war nicht ein einziges Mal in London gewesen, seit Laurel auf der Welt war –, und wenn sie erfuhren, dass ihre älteste Tochter nicht nur vorhatte, dorthin zu ziehen, sondern auch noch eine fragwürdige Exis tenz als Schauspielerin führen wollte, würde sie der Schlag treffen.
Unter ihr flatterte die nasse Wäsche an der Leine. Die Beine der Jeans, die Grandma Nicolson nicht ausstehen konnte (»Du siehst ordinär aus in der Hose, Laurel; es gibt nichts Schlimmeres als ein Mädchen, das sich wegwirft«), schlugen gegeneinander, sodass die Henne, der ein Flügel fehlte, aufgeregt gackernd im Kreis lief. Laurel schob sich die Sonnenbrille mit dem weißen Rahmen auf die Nase und lehnte sich gegen die Wand des Baumhauses.
Das Problem war der Krieg. Er war jetzt schon über sechzehn Jahre vorbei – so lange, wie sie auf der Welt war –, und die Welt hatte sich weitergedreht. Alles war jetzt anders. Ihr Vater hatte in einer großen Truhe auf dem Dachboden Gasmasken, seine Uniform, Essensmarken und alles mögliche andere aus dieser Zeit verstaut, und da gehörte es auch hin. Leider gab es viele Leute, die das nicht einsehen wollten – um nicht zu sagen, fast alle, die älter waren als fünfundzwanzig.
Billy meinte, sie würde es ihnen nie begreiflich machen können. Er sagte, man bezeichne das als Generationenkonflikt, und es sei zwecklos, es erklären zu wollen. Es sei genauso wie in dem Buch von Alan Sillitoe, das er ständig bei sich trug, dass Erwachsene ihre Kinder eben nicht verstünden und dass man etwas falsch machte, wenn sie es doch taten.
Zuerst hatte Laurel ihm widersprechen wollen, schließlich war sie ein wohlerzogenes Mädchen, immer ehrlich ihren Eltern gegenüber, aber sie hatte es nicht getan. Sie hatte daran denken müssen, wie sie sich neuerdings, wenn ihre Schwestern schliefen, aus dem Haus stahl, hinaus in die laue Nacht, ihr Transistorradio unter der Bluse versteckt, und mit klopfendem Herzen ins Baumhaus kletterte. Oben angekommen schaltete sie Radio Luxemburg ein und ließ sich in der Dunkelheit von leiser Musik berieseln. Und wenn die Musik in die stille Landluft hinausgetragen wurde und die neuesten Hits sich über die uralte Landschaft legten, bekam Laurel eine Gänsehaut von dem berauschenden Gefühl, Teil von etwas Großem zu sein, einer weltweiten Verschwörung, einer geheimen Vereinigung. Sie gehörte einer neuen Generation von jungen Menschen an, die alle in diesem Moment dieselbe Musik hörten, die wussten, dass das Leben, die Welt, die Zukunft auf sie warteten …
Laurel öffnete die Augen, und die Erinnerung verflüchtigte sich. Aber das Gefühl der Gänsehaut blieb. Sie streckte sich genüsslich und schaute einer Krähe hinterher, die unter einem Wolkenstreifen dahinsegelte. Flieg, kleiner Vogel, flieg. Genauso würde sie es machen, sobald sie die Schule abgeschlossen hatte. Sie schaute der Krähe nach, bis sie nur noch ein winziger schwarzer Punkt am blauen Himmel war, und sagte sich, wenn ihr dieses Kunststück gelang, dann würden ihre Eltern ihre Welt mit ihren Augen sehen, und die Zukunft würde ihr
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