Die verschollene Symphonie
Ich bin schließlich kein Ungeheuer, wissen Sie… Aber das ist unwahrscheinlich. Ich bin schon fast ein Jahr nicht mehr mit einem Mann zusammengewesen, und so Gott will, werde ich auch so bald keinen anfassen. Dreckige Scheusale. Damit meine ich natürlich nicht Sie«, fügte sie rasch hinzu.
Juda winkte ab. Er wusste immer noch nicht, was er von dem Ganzen halten sollte. »Aber das ist nicht möglich. Sie müssen heute Nacht schwanger werden. In genau neun Monaten werden Sie einen Sohn zur Welt bringen – die Berechnungen können nicht falsch sein.«
»Hah!«, gluckste sie und kippte den restlichen Wodka hinunter. »Es ist Schellfisch-Saison. Die meisten Männer sind beim Fischen oder im Hafen mit dem letzten Fang beschäftigt. Selbst wenn ich Interesse hätte, hätten sie für die nächsten Wochen gar nicht die Zeit, irgendjemanden zu schwängern.«
»Aber«, stammelte Juda verwirrt, »Sie müssen schwanger sein.«
Sie lachte noch einmal und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. »Und woher wollen Sie das wissen? Haben wohl hinter meinem Rücken in meiner Unterwäsche gewühlt, was?«
Die Erkenntnis dämmerte langsam, doch als sie kam, traf sie Juda mit der Wucht eines Donnerschlags.
Er warf einen Blick auf die kichernde, betrunkene Frau vor ihm und sah dann aus dem schmutzigen Fenster. Am Himmel zeigte sich bereits das Grau der heranrückenden Morgendämmerung. Er dachte an die zahllosen Jahrtausende, die er und die anderen Abbilder seiner selbst durch die Zeit gereist waren, um diesen Augenblick zu finden. Ein Unterfangen, wie es in der Geschichte noch nie dagewesen war, mit dem einzigen Ziel, der heimliche Zeuge eines bestimmten Ereignisses zu werden – so hatte er jedenfalls bisher angenommen.
Ihm wurde bewusst, dass dies sein einziger Fehler gewesen war, denn alles andere passte perfekt zusammen.
Er wandte sich wieder der Frau zu, die ihn mit ihren vom Wodka verschleierten Augen neugierig ansah. Er betrachtete sie einen Augenblick lang und schritt dann zur Tat.
»Stehen Sie auf.«
Wortlos gehorchte sie ihm.
»Ziehen Sie Ihre Kleider aus.«
Ihre Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, was er verlangt hatte.
»Was? W… was haben Sie…?«
Juda wiederholte seine Aufforderung. »Ziehen Sie Ihre Kleider aus. Machen Sie, was ich sage, und ich werde Ihnen nicht wehtun. Wenn Sie sich wehren, breche ich Ihnen den Arm. Haben Sie verstanden?«
Sie nickte ängstlich und zog langsam ihr Kleid aus.
Juda atmete auf, als er sah, dass sie nicht zu fliehen versuchte. Dann verriegelte er die Tür und begann sich auszuziehen.
Eine Stunde später, als die Londoner Luft bereits ihre verschwitzten Körper getrocknet hatte, verließ Juda die Frau, damit sie ihren Rausch ausschlafen konnte. Das Wissen, dass er das Ziel seiner Reise erreicht hatte, beruhigte ihn. Besonders, da die Ereignisse einmal mehr seinen Glauben an die eigene Bestimmung bestätigt hatten.
Die Götter selbst gehorchten seinem Willen. Er besaß die Macht, ganze Welten zu verändern. Und seit dieser Nacht wusste er ganz sicher, dass von allen Wesen auf dieser Welt er allein sein Schicksal bis hin zum Ursprung seines Daseins durch bewusste Entscheidung selbst bestimmt hatte.
Es war Zeit, ans Werk zu gehen. Er musste lediglich eine Umkehrung zu Ende bringen, und wenn dies geschehen war, konnte ihn niemand mehr aufhalten – egal, in welchem Zeitalter.
Er zog den Reißverschluss seiner Hose zu, blickte der aufgehenden Sonne entgegen und ließ ihr Licht über sein Gesicht strömen. Dann zog er die Anabasis-Maschine aus der Tasche, justierte die Rädchen an ihrer Oberseite und verschwand.
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