Die Versuchung
Bekanntschaft zu machen. Ich fürchte nur, dass er eigentlich hofft, meinen Vater zu treffen, der vor Jahren in Deutschland war.“
„Ich denke, das wird ihm gleich sein“, sagte das Fräulein, als sie neben ihm herging. „Sie können Ihrem Vater ja Grüße ausrichten. Es tat dem Papa nur leid, dass er Sie nicht zuhause empfangen konnte, weil unser Haus gerade renoviert wird ...“
„Ja richtig, das hat er in seinem Brief geschrieben.“
„Warten Sie hier, bis ich ihm gemeldet habe, dass Sie angekommen sind“, sagte sie und klopfte an eine der Zimmertüren, die sich öffnete und gleich wieder hinter ihr schloss. Kurz darauf erschien ein langer schmaler Diener, um ihn in das Zimmer des Grafen zu führen. Bei seinem Eintritt bemerkte er, dass auf dem Bett eine Gestalt lag, die so in Decken gewickelt und unter Federbetten begraben war, dass man nur das Gesicht sehen konnte, über das der Schweiß in Strömen rann. Auf seiner Brust lag ein Lesepult, und eine lange, fest zwischen seine Lippen gepresste Gänsefeder diente dazu, die Seiten eines Buches umzuwenden, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen.
„Sehr erfreut, Sie zu sehen – sehr erfreut, dass Sie meinen Brief bekommen haben. Sind Sie wieder gut auf den Beinen?“
„Ich danke Ihnen, ganz leidlich“, sagte Hamilton, einigermaßen erstaunt über diese Anrede.
„Sie sind in Gräfenberg gewesen, nicht wahr?“
„Nein.“
„Sie sind ohne Prießnitz wieder gesund geworden?“
„Gesund geworden?“, wiederholte Hamilton. „Verzeihen Sie, aber ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht ernsthaft krank gewesen, von Erkältungen und anderen Kleinigkeiten mal abgesehen.“
„Kleinigkeiten! Ihr Engländer habt einen besonderen Humor. Rheuma ist nun wirklich keine Kleinigkeit!“
„Die Gicht kommt bei uns häufiger vor“, bemerkte Hamilton belustigt, der sich vorkam wie in einer Komödie.
„Also Gicht, Podagra, Rheumatismus, was Sie wollen – das sind keine Kleinigkeiten! Sie haben also die Gicht gehabt?“
„Noch nicht, aber ich werde sie wohl irgendwann bekommen, sie ist in unserer Familie erblich. Mein Vater hat jedes Jahr zwei oder drei Anfälle.“
„Also Ihr Vater hat die Gicht?“
„Ja, und ich vermute, dass Sie eigentlich auch an meinen Vater schreiben wollten. Ich bin vermutlich nicht der, für den Sie mich halten.“
„Was – wie meinen Sie das?“, rief der eingewickelte Graf in offenkundiger Bestürzung und versuchte vergeblich, sich aufzurichten.
„Ich meine, dass ich gestern einen Brief bekommen habe, der mich einlud, hierher zu kommen. Die Unterschrift ist nicht zu lesen, das Siegel zeigt ein Krönchen und die Buchstaben A und Z. Ich kam an, erkundigte mich nach den Gästen des Hauses und hielt es für möglich, dass Graf Zedwitz oder ein Mitglied seiner Familie an mich geschrieben habe. Ihre Tochter versicherte mir vorhin, dass Sie an einen Engländer in München geschrieben hätten und wünschten, ihn zu sehen.“
„Hm, sehr merkwürdig“, murmelte der Graf und musterte ihn. „Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“
„Hamilton“, erwiderte er.
„Ich habe nicht die Ehre, eine Person dieses Namens zu kennen“, sagte der Graf. „Ich bin erstaunt, Sir, dass Sie davon ausgingen, der Brief stamme von mir.“
Hamilton bemühte sich, seine Verlegenheit zu verbergen. „Ich hielt es immerhin für möglich – mein Vater hat Bekannte in Deutschland. Ich bedauere, Sie belästigt zu haben. Vermutlich bin ich umsonst nach Seeon gekommen, jedenfalls werde ich wohl nie erfahren, wer nun wirklich der Absender des Briefes ist.“
„Warten Sie“, sagte der Graf. „Wenn ich es recht bedenke, dann ist es gut möglich, dass der Brief von Baron Zander ist; seine Frau ist Engländerin. Er ist noch nicht abgereist. Und falls Sie doch etwas über Prießnitz und die Wasserkur lernen möchten, so will ich Ihnen gerne ein paar Bücher leihen. Nehmen Sie doch vorerst die kleine Broschüre mit, die dort drüben auf dem Tisch liegt. Lesen Sie, was darin über das Schwitzen, das Baden in kaltem Wasser und das Wassertrinken gesagt wird, und bilden Sie sich selbst ein Urteil; ich werde Sie beim Mittagessen sehen.“
Hamilton nahm das Büchlein an sich und dankte. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, den Vormittag jemals als schwitzende Mumie zu verbringen, war er vielleicht immerhin gerade dabei, etwas über die Sitten und Bräuche in diesem Land zu erfahren.
3
Als Hamilton auf dem Weg zu seinem Zimmer war, kam er auf die Idee,
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