Nesthäkchen 10 - Nesthäkchen im weissen Haar
Marietta
Oktobersonne blinzelte durch das hohe, unverhangene Fenster. Sie malte goldene Strahlenkegel an die schlicht getünchte Wand des Klassenraumes. Sie streichelte junge Mädchengesichter, die sich voll Eifer dem Pult zuwandten. Dort stand eine Frau die mit ernsten Worten die jungen Zuhörerinnen in Bann hielt. Eine von den Frauen, die ihre starke Persönlichkeit schon beim ersten Zusammensein offenbaren. Sie war weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich. Das war Fräulein Dr. Engelhart, die Leiterin der sozialen Frauenschule.
Zum ersten Mal hatte sich die unterste Fachklasse zu Beginn des neuen Lehrjahres versammelt. Heiligen Ernst, erwartungsvolle Arbeitsfreudigkeit offenbarten die jungen Gesichter der Zuhörerinnen.
»Der soziale Beruf sollte nur von denen ergriffen werden, die sich im wahren Sinne des Wortes dazu berufen fühlen. Soziale Hilfsbereitschaft verlangt volle Hingabe. Nur wer mit dieser Vorbedingung in den sozialen Beruf eintritt, wird eine beglückende Aufgabe finden.« So klang es ernst und verheißungsvoll von den Lippen der Sprechenden. Fräulein Dr. Engelharts Blick, der die neuen Zöglinge prüfend überflog, blieb in der vorletzten Reihe haften. War es das goldbraune Kraushaar, das ein schmales, zartes Mädchengesicht umstrahlte, was den Blick der Leiterin anzog? Oder waren es die großen, schwarzen Augen, die in selbstvergessener Hingabe an den Lippen der Sprechenden hingen? Fräulein Dr. Engelhart, daran gewöhnt, schnell und sicher zu sondieren, empfand sofort Sympathie für die unbekannte, neue Schülerin. Aber auch die klaren, blaugrauen Augen der Danebensitzenden, die ihren Ausführungen so aufmerksam folgte, fesselten die Menschenkennerin.
»Es ist notwendig, meine Damen«, fuhr sie in ihrer Rede fort, »daß sich jede von Ihnen so bald wie möglich, schon bei Beginn ihrer sozialen Laufbahn, klar darüber wird, zu welchem Ziel Sie der einzuschlagende Weg führen soll, welchem Sondergebiet der sozialen Fürsorge Sie sich widmen wollen. Es ist dies für die praktische Tätigkeit, die Hand in Hand mit unseren theoretischen Lehrkursen geht, unumgänglich. Wir unterscheiden drei Hauptgruppen, für die wir Wohlfahrtspflegerinnen ausbilden. Die erste ist die Gesundheitsfürsorge. Sie können in dieser Abteilung Beamtin an Säuglingsfürsorgestellen, städtische Armenpflegerin, Lungenfürsorgeschwester, Wohnungsinspektorin werden. Das Feld für soziale Tätigkeit ist groß. Die zweite Hauptgruppe umfaßt die Jugendwohlfahrtspflege. Hier werden Schul-, Jugend- und Waisenpflegerinnen ausgebildet. Die dritte und letzte Gruppe ist der allgemeinen und wirtschaftlichen Wohlfahrtspflege gewidmet, insbesondere der Arbeiterinnenfürsorge. Fabrikpflegerinnen und Beamtinnen für Arbeiterinnenheime und Vereine gehen aus ihr hervor.«
»Das ist für dich das Richtige, Marietta, - die Arbeiterfürsorge«, flüsterte die Besitzerin der blaugrauen Augen dahinten auf der vorletzten Bank ihrer Nachbarin zu. »Wollen Sie sich irgendwie dazu äußern, Fraulein - wie war doch Ihr Name?« wandte sich Fräulein Dr. Engelhart freundlich an die Flüsternde.
»Ebert - Gerda Ebert.« Das blasse Mädchengesicht überzog leichte Röte. »Ich meinte nur, Arbeiterfürsorge wäre das richtige Feld für meine Kusine Marietta Tavares. Und ich selbst möchte ...«
»Nun - nun, Fräulein Ebert, ich verlange nicht, daß Sie diese für die Zukunft schwerwiegende Frage sofort entscheiden sollen. Gut Ding will Weile haben. Erst müssen Sie einen Einblick in unsere verschiedenen Abteilungen mit ihren Anforderungen und Pflichten bekommen, bevor Sie einen endgültigen Entschluß fassen. Dabei muß Sie ihre eigene Veranlagung leiten. Sie selbst müssen es fühlen, zu welcher sozialen Betätigung Sie Ihr Inneres treibt. Keiner der Wege ist leicht, jeder ist gleich schwer, das darf ich Ihnen nicht verhehlen. So, meine Damen ...« Fräulein Engelhart schlug jetzt einen sachlichen Ton an - »nun notieren Sie bitte den Stundenplan.«
Da wurde es mancher der jungen Damen etwas schwül zumute. Schon bei den eindringlich mahnenden Worten der Anstaltsleiterin hatte sich diese und jene bange gefragt, ob sie auch wirklich die notwendigen Vorbedingungen für diesen schweren Beruf mitbringe. Himmel, man war doch knapp zwanzig Jahre alt, das Leben mit all seinen Freuden lag vor einem. Man lachte gern, man belustigte sich, und man tanzte nur allzugern. Und doch wollte man helfen. Aber man hatte es sich leichter gedacht. Schon der
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