Die Versuchung
und Lisa jetzt führten, konnte es nicht kommen. Normalerweise behielt sie einen Job ein paar Monate oder – wenn sie großes Glück hatte – ein halbes Jahr. Dann kam die Entlassung mit dem Versprechen, sie wieder einzustellen, sobald bessere Zeiten kamen, was aber anscheinend nie der Fall war.
Ohne Abschlußzeugnis der High School wurde LuAnn auf Anhieb als hübsch, aber doof eingestuft. Sie fand, daß sie dieses Etikett vollkommen verdiente, da sie schon so lange mit Duane zusammenlebte. Doch er war Lisas Vater, auch wenn er nicht die Absicht hatte, LuAnn zu heiraten. Sie hatte ihn auch nicht dazu gedrängt. Sie war, weiß Gott, nicht scharf darauf, Duanes Familiennamen anzunehmen oder das Mannkind, das dazu gehörte.
Obgleich LuAnn keineswegs in der Geborgenheit einer glücklichen, liebevollen Familie aufgewachsen war, war sie fest davon überzeugt, daß die Familieneinheit unabdingbar für das Wohlergehen eines Kindes war. Sie hatte alle Illustrierten gelesen und sich unzählige Talkshows angeschaut, die sich mit diesem Thema befaßt hatten. Lisa sollte – und würde – es besser als ihre Mutter haben. LuAnn hatte ihr Leben diesem Ziel gewidmet, auch wenn sie in Rikersville, wo sich auf jeden miesen Job mindestens zwanzig Leute meldeten, die meiste Zeit nur knapp über dem Sozialhilfesatz lag. Doch mit tausend Dollar würde sie vielleicht selbst ein besseres Leben finden. Eine Busfahrkarte nach irgendwo. Ein bißchen Geld, von dem sie leben konnte, bis sie einen Job fand. Es könnte der Notgroschen sein, den sie sich all die Jahre so sehnlichst gewünscht hatte, ohne jemals in der Lage gewesen zu sein, ihn anzusparen.
Rikersville lag im Sterben. Der Wohnwagen war Duanes heimliches Grabmal. Ehe die Erde ihn verschluckte, würde es ihm nie besser gehen als jetzt, wahrscheinlich sogar viel schlechter. Dieser Wohnwagen könnte auch meine Gruft werden, dachte LuAnn. Nein, nicht nach diesem Anruf! Nicht, wenn sie diesen Termin einhielt.
Sie faltete den Zettel zusammen und steckte ihn zurück in die Handtasche. In einer kleinen Schachtel in einer Schublade fand sie genug Kleingeld für die Busfahrkarte. Sie strich sich noch einmal übers Haar, knöpfte das Kleid zu, nahm Lisa auf den Arm und verließ leise den Wohnwagen – und Duane.
KAPITEL 3
Jemand klopfte kräftig an die Tür. Der Mann stand schnell auf, rückte die Krawatte zurecht und schlug eine Akte auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Im Aschenbecher daneben lagen die Reste von drei Zigaretten.
»Herein«, sagte er mit fester, klarer Stimme.
Die Tür öffnete sich, und LuAnn trat ein und schaute sich um. Mit der linken Hand hielt sie die Tragegurte der Babytasche fest, in der Lisa lag. Neugierig schweiften LuAnnes Blicke umher. Über ihrer rechten Schulter hing eine große Tragetasche. Der Mann sah die Ader an LuAnns sehnigem Oberarm, die sich am Unterarm mit einem Labyrinth anderer Adern verknüpfte. Die Frau war körperlich offenbar ziemlich stark. Aber was war mit ihrem Charakter? War er ebenso stark?
»Sind Sie Mr. Jackson?« fragte LuAnn. Sie blickte ihn beim Sprechen fest an und wartete darauf, daß seine Augen die unausweichliche Bestandsaufnahme ihres Gesichts, ihres Busens, ihrer Hüften und so weiter vornahmen. Es spielte keine Rolle, aus welchen Kreisen die Männer stammten – wenn es um »das Eine« ging, waren alle gleich.
LuAnn war sehr überrascht, als der Blick des Mannes auf ihrem Gesicht ruhen blieb. Er streckte ihr die Hand entgegen, und LuAnn schüttelte sie kräftig.
»Bin ich. Bitte, setzen Sie sich, Miss Tyler. Danke, daß Sie gekommen sind. Eine süße Tochter haben Sie. Möchten Sie die Kleine vielleicht dort drüben unterbringen?« Er zeigte auf eine Ecke des Büros.
»Sie ist gerade aufgewacht. Wenn ich sie herumtrage oder mit dem Bus fahre, schläft sie immer. Ich lasse sie einfach neben mir, wenn es nichts ausmacht.« Lisa begann zu brabbeln und wedelte mit den Ärmchen, als wollte sie ihr Einverständnis bekunden.
Der Mann nickte, setzte sich wieder und blickte für einen Moment in die Unterlagen.
LuAnn stellte die Babytasche mit Lisa neben sich. Dann holte sie einen Ring mit Plastikschlüsseln hervor und gab ihn ihrer Tochter zum Spielen. Sie richtete sich auf und musterte Jackson mit unverkennbarem Interesse. Sein Anzug war sehr teuer. Auf der Stirn hingen Schweißtropfen wie eine Perlenkette. Er schien ein bißchen unruhig zu sein. Normalerweise hätte LuAnn seine Nervosität ihrem Aussehen
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