Die Versuchung
der Haute Couture auf dem Laufsteg vorzuführen. Doch jetzt, als sie den Büstenhalter zumachte, kam ihr der Gedanke, daß es gar nicht so übel sein müsse, für tausend Dollar am Tag die neueste Mode zu tragen.
Ihr Gesicht. Und ihr Körper. Auch über diese Attribute hatte ihr Vater oft gesprochen. Als »üppig« hatte er ihren Körper bezeichnet, als »verführerisch«, als wäre er ein von ihrem Verstand abgetrenntes Etwas. Nichts im Kopf, aber ein wundervoller Körper. Gott sei Dank hatte Dad es bei seinen Äußerungen belassen. Manchmal, in der Nacht, fragte LuAnn sich, ob ihr Vater sie je begehrt hatte und ob es ihm nur an Mut oder Gelegenheit gefehlt hatte, die eigene Tochter zu mißbrauchen. Jedenfalls hatte er sie manchmal sehr sonderbar angeschaut. Bei seltenen Gelegenheiten wagte LuAnn sich in die tiefsten Abgründe ihres Unterbewußtseins und der Erinnerungen – und spürte einen plötzlichen Stich, wie von einer Nadel. Denn irgendwelche zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen führten sie zu der Frage, ob sich ihrem Vater vielleicht doch die Gelegenheit geboten hatte. Wenn LuAnn an diesen Punkt gelangte, fing sie stets zu zittern an und sagte sich, daß es nicht richtig sei, Schlechtes über Tote zu denken.
Sie musterte den Inhalt des kleinen Wandschranks. Eigentlich besaß sie nur ein einziges Kleid, das für ihre Verabredung geeignet war. Es war marineblau, hatte kurze Ärmel und weiße Paspelierung um Kragen und Saum. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie das Kleid gekauft hatte. Ein voller Lohnscheck war dafür draufgegangen. Die ganzen fünfundsechzig Dollar. Das war vor zwei Jahren gewesen, und LuAnn hatte diese wahnwitzige Extravaganz nie wiederholt. Tatsächlich war es das letzte Kleid, das sie sich gekauft hatte. Inzwischen war es da und dort ein wenig ausgefranst, doch sie hatte den Schaden mit Nadel und Faden geschickt beseitigt. Um ihren langen Hals lag eine kurze Kette mit falschen Perlen, das Geschenk eines einstigen Verehrers.
Gestern abend hatte LuAnn mühsam alle abgestoßenen Stellen ihres einzigen Paares hochhackiger Schuhe nachgefärbt. Sie waren dunkelbraun und paßten nicht zum Kleid, doch LuAnn besaß nichts Besseres. Heute konnte sie ja nicht mit den Sandalen oder den Leinenschuhen gehen. Allerdings würde sie die Leinenschuhe tragen, wenn sie die eine Meile bis zur Bushaltestelle lief. Heute würde der Aufbruch zu etwas Neuem stattfinden – zumindest zu etwas anderem. Wer konnte sagen, ob dieser Aufbruch nicht in eine bessere Zukunft führte, irgendwohin. Vielleicht brachte er sie und Lisa von hier weg, fort von den Duanes dieser Welt.
LuAnn holte tief Luft, öffnete das Reißverschlußfach ihrer Handtasche und faltete sorgfältig einen Zettel auseinander. Sie hatte die Adresse und andere Informationen notiert, welche der Anrufer ihr gegeben hatte, der sich Jackson nannte. Beinahe hätte LuAnn das Gespräch gar nicht entgegengenommen, weil sie gerade von Mitternacht bis sieben Uhr früh als Kellnerin in der Fernfahrerkneipe Number One geschuftet hatte.
Als der Anruf kam, hatte LuAnn mit fest geschlossenen Augen auf dem Fußboden in der Küche gesessen und Lisa gestillt. Das kleine Mädchen bekam Zähne, und LuAnns Brustwarzen brannten wie Feuer, doch die Babynahrung war zu teuer, und sie hatten keine Milch im Haus. Im ersten Augenblick hatte LuAnn gar keine Lust gehabt, ans Telefon zu gehen. Bei ihrem Job in der vielbesuchten Fernfahrerkneipe an der Interstate war sie pausenlos auf den Beinen, während Lisa sicher unter der Theke in ihrer Babytasche steckte. Zum Glück konnte die Kleine schon die Flasche halten, und der Geschäftsführer des Number One mochte LuAnn gern genug, daß dieses Arrangement ihren Job nicht gefährdete.
Sie bekamen nicht viele Anrufe. Hauptsächlich erkundigten sich Duanes Kumpel, ob er Lust hätte, sie auf einer Sauftour zu begleiten oder ein paar Autos auszuschlachten, die auf der Schnellstraße liegengeblieben waren. Die Kerle nannten es ihr »Sauf-und-Fick-Geld«, und oft sagten sie es LuAnn direkt ins Gesicht. Aber so früh riefen Duanes Kumpel nicht an. Um sieben Uhr morgens lagen diese Kerle nach dem nächtlichen Besäufnis erst seit drei Stunden im Tiefschlaf.
Aus irgendeinem Grund hatte LuAnn nach dem dritten Klingeln die Hand ausgestreckt und den Hörer abgenommen. Die Stimme des Mannes klang kühl und geschäftsmäßig. Er hatte geklungen, als würde er von einem Manuskript ablesen, und trotz ihrer Schläfrigkeit hatte LuAnn das
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