Die vier Söhne des Doktor March
zugefroren war. Sie hatte getrunken, sie hat sie vergessen. Sie fuhren zum Spielen auf die gesperrte Seite des Sees, das Eis brach. Die fünf kleinen Kinder, schöne Fünflinge -Sie wissen, daß Fünflinge sehr selten sind? -, ich glaube, sie waren gerade zehn Jahre alt, sind ertrunken. Von diesem Tag an war nichts mehr wie vorher. Die arme Madame und auch der Doktor wurden seltsam, aber für Jeanie war es am schlimmsten. Ich nehme an, daß ihr verwirrter Geist diese schwere Schuld nicht ertragen konnte. Sie stellte sich in ihrem Delirium vor, daß die Kinder immer noch leben, und hat es erfunden, daß sie sie verfolgen; sie fing an zu morden, immer wieder.«
»Das ist ein wenig an den Haaren herbeigezogen, finden Sie nicht? Dann wäre alles falsch?«
»Alles. Abgesehen davon, vergleichen Sie die Schrift. Aber alles, was mit dem menschlichen Geist zu tun hat, ist in der Regel etwas an den Haaren herbeigezogen, nicht wahr?«
Ich stimmte zu. Er hatte verdammt recht. Er lehnt sich mit einem zufriedenen Lächeln in seinem Sessel zurück. Es war mild. Allmählich wurde es dunkel. Ich steckte meine Karte, die mich als Reporter für Kriminalgeschichten auswies, zurück in meine Brieftasche und stand auf. Bevor ich hinausging, drehte ich mich noch mal um, winkte ihm und sagte leise:
»Auf Wiedersehen, Zacharias.«
Er antwortete nicht.
Ich betrachtete dieses Gesicht, das vom aufgehenden Mond schwach beleuchtet war. Die starren Augen glänzten. Der rote Mund verzog sich zu einem grausamen Grinsen und ließ die Zähne erkennen. Seine Hände zitterten.
Ich wandte mich an Doktor Smith. Er zuckte mit den Schultern:
»Das war's. Mehr ist aus ihm nicht rauszukriegen.«
»Er sieht so friedlich aus, trotz allem.«
»Trauen Sie seinem ruhigen Äußeren nicht. Er ist extrem gefährlich. Man darf niemals mit ihm allein bleiben.«
Ich war perplex:
»Aber hat er wirklich …?«
»Wirklich getötet? Ja, er hat wirklich mehr als zwanzig Menschen getötet, und zwar auf besonders blutrünstige Art und Weise, auch diese Jeanie Morgan, das arme Mädchen, die einzige, die etwas ahnte! Haben Sie ihre Tonbandaufzeichnungen gehört? Was für ein verworrenes Zeug!«
Ich hatte Mühe, meinen Blick von dem leichenblassen Gesicht zu lösen.
»Ja, ich habe auch ihr Tagebuch gelesen … Sie konnte den Mörder nicht überführen, denn sie hielt ihn für tot.«
»Er schlüpfte abwechselnd in die Haut eines jeden seiner Brüder, das gestattete ihm, sich nach Gutdünken und unerkannt zu bewegen. Eine Art raffinierte 400-Meter-Staffel. Deshalb verschwanden die Lebensmittel: Wenn er nicht zu Tisch kommen konnte, aß er nachts im verborgenen. Für alle öffentlichen Handlungen in seinem Leben war er gezwungen zu warten, bis einer seiner Brüder ihm seinen Platz überließ. Er wechselte die Frisur und die Kleidung, und die Runde konnte beginnen. Aber er konnte nie etwas Persönliches leben. Er konnte nur die Rollen der anderen spielen. Auch wenn er seinen mörderischen Trieben freien Lauf ließ.«
Ich stellte mir einen Moment diesen Mann als Gefangenen des guten Willens seiner »Zwillingsbrüder« vor. Den Haß und die Verbitterung, die sich in seinem kranken Hirn angesammelt haben mußten. Ich blätterte in meinem Notizbuch eine Seite weiter:
»Wie versteckte er sich im Haus?«
»Er lebte in einem Verschlag, der an das Zimmer seiner Mutter angrenzte. Man kam durch die Garderobe hinein.«
Allein der Gedanke daran, daß dieser blutrünstige Verrückte mit dem eisigen Lächeln die arme Jeanie Morgan durch die Garderobe beobachtet hatte, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Sich vorzustellen, daß er ihr oft zum Greifen nahe gewesen war.
Doktor Smith begann wieder zu sprechen:
»Verstehen Sie, als seiner Mutter klar wurde, daß er nicht normal war, nach dem Mord an diesem kleinen Mädchen, das bei lebendigem Leib verbrannte, und anderen, ungewöhnlich sadistischen Einfällen, beschloß sie, ihn zu verstecken, um so zu verhindern, daß er geschnappt und für den Rest seines Lebens in eine Anstalt gesperrt würde. Um ihn zu schützen, war sie zu allem bereit, vielleicht, weil er bei der Geburt fast gestorben wäre? Wie auch immer, sie inszenierten diesen falschen Unfall auf dem See: Man ging davon aus, daß die Leiche vor dem Auftauen des Eises nicht gefunden werden könne; danach nahm man an, daß sie die Strömung mitgenommen habe. Das alles war Jeanie Morgan jedoch nicht bekannt. Sie bestatteten einen leeren Sarg und Zack begann sein
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