Die Violine von Auschwitz: Roman (German Edition)
Er hatte dieses Stück seit langer Zeit nicht mehr gespielt, aber der Vortrag war von Anfang an gelungen, die Melodie schwebte ergreifend durch den Raum, die Intonation war perfekt, wie er selbst als Erster bemerkte.
Während der letzten Takte hatte er die Augen geschlossen, er musste die Partitur nicht sehen, um das Stück mit Präzision zu Ende spielen zu können. Er hielt einen Augenblick inne und ließ dann das Thema ausklingen. Seine Gedanken schweiften von der Musik ab, und er fragte sich, ob der Kommandant wohl zufrieden sein würde, ob er Daniels Leben und das seine hatte retten können. Stürmischer Applaus befreite ihn von der bitteren Vision. Mein Gott, was war mit ihm los? Ein Klavier und nicht das Cello begleitete ihn, er und sein Partner verbeugten sich auf der Bühne, eine Blumenpracht umgab sie. Nimmer endender Applaus ertönte, das Publikum erhob sich begeistert, der Pianist deutete ihm, weiter nach vorne zu gehen, um sich nochmals zu verneigen. Ein hübsches Mädchen überreichte beiden eine flammendrote Rose, bedankte sich charmant, und Bronislaw erhielt außerdem einen Stamm Orchideen.
Alles erschien wie ein Traum, obwohl er sich vermeintlich sicher bewegte, lächelte und sich so verhielt, wie man es von einem Virtuosen erwartet. Er signierte einige Konzertprogramme für Musikliebhaber, die ihn darum baten, und später nahm er am Smörgås teil , zu dem er geladen worden war, bevor er endlich in sein stilles Haus zurückkehren konnte. Er wollte aber nicht gleich zu Bett gehen, denn er war sich sicher, wieder von dem alten Alptraum heimgesucht zu werden.
»Ich werde noch ein bisschen lesen«, sagte er zu Ingrid, die wusste, wie ihm zumute war.
Der Raum war durch die Heizung gut temperiert, doch Ingrid hatte zusätzlich Feuer im Kamin gemacht. Er setzte sich direkt davor, wie er es gerne tat, und schenkte sich ein Glas kühlen, leichten Weißwein ein; für eine Weile schloss er die Augen, bevor er in dem Buch blätterte, das er vor einigen Tagen angefangen hatte zu lesen.Vielleicht würde es ihn ja auch heute von seinen Erinnerungen ablenken, die so hartnäckig waren. Diesmal war er selbst schuld daran gewesen, denn er hätte die Follia von Corelli nicht spielen sollen, dieses Stück, das er all die Jahre nicht hatte interpretieren wollen und das ihn zwangsläufig ins Lager zurückkehren ließ. Jetzt, in der Ruhe seines Hauses, nach so langer in relativem Frieden verbrachter Zeit, war er erstmals dazu in der Lage, sich ohne Schrecken an die Vergangenheit zu erinnern, jetzt, wo sein Haar bereits weiß war.
Was mochte wohl aus seinen Leidensgenossen geworden sein? Er hatte nie über jene Zeit sprechen wollen, und bei vielen Kameraden erinnerte er sich nicht einmal mehr daran, wie sie aussahen, aber Daniel, diesen außergewöhnlichen Geigenbauer, sah er noch genau vor sich, als ob der Schein des Kaminfeuers seine Gesichtszüge erhellte. Diese wachen Augen, die der Hunger nicht völlig zum Erlöschen hatte bringen können und die alle Regungen seines Geistes widergespiegelt hatten: den Mut, die Furcht, den Zorn und die Verzweiflung, als er erfahren musste, dass sie ihn als Einsatz gegen eine Kiste französischen Wein ausgespielt hatten. Auch seine schlanken, ein wenig rissigen, so geschickten Hände sah er deutlich vor sich und die unauslöschliche Tätowierung, die auch er selbst trug. Die Hände, die ihm zum Abschied nachgewinkt hatten, als er, vom Schicksal begünstigt, zusammen mit einem alten Häftling und acht kränklichen Frauen das Lager verlassen konnte: Das war der Anteil gewesen, den das Dreiflüsselager zum Handel beigetragen hatte; ja, der Graf Bernadotte hatte sie zusammen mit vielen weiteren Häftlingen aus anderen Todeslagern gegen Lastwagen eingetauscht. Er war davon überzeugt, dass er dank des Wehrmachtoffiziers, der ihm den Geldschein zugesteckt hatte, auf der glückseligen Liste gestanden hatte. Mein Gott, was war das für eine Reise gewesen … Hart, unendlich lang, über verwüstete Felder, mit glühender Hoffnung im Herzen. Unbändige Freude und gleichzeitig ein bedrückendes Schuldgefühl hatten ihn eingenommen, als er an die Kameraden zurückdachte, vor allem an seine Triopartner und mehr noch an Daniel, der weiterhin den Schweinen ausgeliefert war.
Heute konnte er sich nicht mehr auf die Lektüre konzentrieren. Er machte leise ein wenig Musik an, doch auch sie vermochte ihn nicht zu zerstreuen. Morgen würde er auf andere Gedanken kommen, denn am Abend wollten sie in ihr
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