Die Visionen von Tarot
fertig“, fuhr die Dämonin fort und tauchte wieder auf. „Dieser Mann gehört einem plagiierten Glauben an.“
„Plagiierter Glaube!“ rief Lee aus. „Das ist eine höllische Lüge!“
„Was sagst du?“ schrie sie und machte wieder ihr Kunststückchen mit dem Rauch. „Dann sieh dir das an!“ Dieses Mal zeigte die Szene einen Mann, der an einem Manuskript schrieb. „Das ist Salomon Spalding, ein kongregationalistischer Minister und Möchtegern-Schriftsteller, der im Jahre 1810 an einem Roman schreibt“, verkündete sie. „Er hat mehrere Romane geschrieben, aber nie einen veröffentlicht. Sein Interesse lag bei den Ursprüngen der amerikanischen Indianer, und er traf Folgerungen über ihre möglichen Verbindungen mit den Menschen auf der anderen Seite des Atlantiks. Er starb 1816.“
„Das hat weder mit mir noch mit meiner Religion zu tun!“ protestierte Lee.
Das Bild wechselte. Nun sah man eine über einer Hütte ausgebreitete Decke. „Das ist Joseph Smith, der Begründer der Mormonenkirche“, sagte die Teufelin. „Er versteckt sich, damit sein Sekretär nicht sieht, daß er aus Spaldings Roman und der King-James-Bibel und anderen Quellen abschreibt, um das Buch der Mormonen zu vervollständigen.“
„Nein!“ schrie Lee. „Das Buch der Mormonen ist eine göttliche Offenbarung!“
„Und als es ihm zu mühselig wurde, diese göttliche Offenbarung dem Schreiber zu diktieren, nahm Smith einfach Seiten aus Spaldings Originalmanuskript. Das Erste Buch Nephi ist dafür ein Beispiel.“
„Nein!“ Der Schrei klang wie der eines Mannes, dessen Hals schon unter dem Fallbeil liegt.
„Dann erkläre du mir den Ursprung des Buches der Mormonen“, forderte sie ihn heraus.
„Es wurde von Angehörigen des Nephitenstammes verfaßt, und der letzte von ihnen hieß Moroni, der die Aufzeichnungen an einem Ort namens Cumorah, New York, versteckte. Dort blieben die auf Tafeln eingeritzten Schriften vom Jahre 400 bis 1827, als der wiederauferstandene Moroni sie Joseph Smith zur Übersetzung und Veröffentlichung gab. Diese Übersetzung stellt das Buch der Mormonen dar.“
„Die Anklage schweigt“, sagte die Teufelin. „Glaubst du dieses Mormonenmärchen immer noch?“
Und Lee blieb stumm.
„Das ist aber ein Problem“, meinte Mohammed. „Wenn deine gesamte Religion auf einer Lüge beruht …“
„Nein!“ rief Bruder Paul. „Vielleicht sind die Ursprünge der Sekte suspekt, und vielleicht ist auch alles ein großer Betrug. Das spielt aber keine Rolle! Was wichtig ist, welche Rolle diese Religion heute spielt. Viele wertvolle Religionen wurden verändert, wenn die Anführer die wichtigsten Prinzipien vergaßen – aber hier wurde ein Glaube größer als sein Ursprung. Heute stellen die Mormonen auf der Erde eine der mächtigsten Kräfte für das Gute dar. Ihre Aufrichtigkeit steht in starkem Gegensatz zu der Heuchelei so vieler der konventionelleren Religionen. Daher hat sich dieser Mann hier keines Verbrechens schuldig gemacht, weil er die guten Prinzipien seines Glaubens restlos befolgt hat. Laßt uns aufhören, Menschen zu kreuzigen, die besser sind als wir!“
Lee schien absolut erstaunt. Die Teufelin, deren Miene nackte Wut verriet, verschwand. Mohammed schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ja, Bruder. Ich glaube, du hast recht. Wir müssen beurteilen, was ist, und nicht, was war. Auf dieser Grundlage …“
„Zur Hölle mit dem, was war!“ rief Bruder Paul. „Dieser Mann ist Jesus Christus ebenso ähnlich, wie es ein Mensch heute nur sein kann. Er gehört zu den Lebenden.“
„Was ist“, wiederholte Lee. „Mich hat das, was war, heimgesucht.“ Dann leuchtete sein Gesicht auf. „In der Hölle haben wir nichts weiter zu suchen“, sagte Jesus. „Die Hölle selbst hat keine Existenzberechtigung. Propheten wie Mohammed und gute Menschen wie Bruder Paul – was zum Teufel tun sie in der Hölle? Ich habe niemals vom Höllenfeuer gepredigt. Ich habe die Vergebung gepredigt – für die Menschen und ihre Institutionen.“ Er reckte sich, und innerhalb von Sekunden schlossen sich die schrecklichen Wunden und verheilten. Er machte eine Handbewegung zu Mohammed – die Eingeweide des Propheten zogen sich in die Bauchhöhle zurück, und glatt spannte sich die Haut darüber. „Kommt, Freunde … wir müssen mit diesen Grausamkeiten Schluß machen.“ Und er trat zurück zu dem Felsen, wo der Dämon immer noch die armen Seelen zerhieb. Den ganzen Weg entlang winkte er den Verwundeten: „Steht
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