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Wiegenlied Roman

Titel: Wiegenlied Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Cantz
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Prolog
    Sie war einem verhängnisvollen Irrtum unterlegen, als sie glaubte, der König habe seine Meinung geändert nach vier Jahren ehelicher Enthaltsamkeit. Nie würde sie diesen einen grauenhaften Moment vergessen, als sie begreifen musste, dass es nicht der König gewesen war, dem sie sich in einem gesichtslosen Hinterzimmer des Potsdamer Schlosses hingegeben hatte.
    Am Morgen nach dem letzten Maskenball dieses Winters nämlich war der König in ihrem Salon erschienen und hatte um Nachsicht gebeten dafür, dass er wegen einer ärgerlichen Magenverstimmung vorzeitig das Fest verlassen musste.
    Offensichtlich hatte sie ihn nicht vermisst, scherzte er und drohte mit erhobenem Finger, denn er habe sie noch ihre dritte Française tanzen sehen.
    Der König sah sie ausgesprochen gern tanzen, und da sie ein hingebungsvoller Mensch war, kam sie seinen Wünschen mit Freude nach. In der Potsdamer Ballnacht, nach einer atemraubenden Mazurka, die kaum jemand mit so viel Anmut beherrschte wie sie, hatte sie sich jedoch von den Tanzenden entfernt, um einen Moment der Ruhe zu finden. Indem sie viele wohlgesinnte Verbeugungen und Knickse mit der flüchtigen Neigung ihres schönen Kopfes beantwortet und sich den Weg durch die festliche Hofgesellschaft freigelächelt hatte, war sie in den rückwärtigen, zum Park
gelegenen Teil des Schlosses entschwunden, ohne dass ihr zeitweiliges Fehlen bei der Redoute ernstlich bemerkt worden war.
    Als sie in jener Nacht zu den hohen Fenstern des nördlichen Traktes gelangte, schien der Park wie fortgesogen. Das Orchester war in diesem Teil des Schlosses nicht mehr zu hören, weder Stimmen noch das entfernteste Rascheln von Seidenkleidern. Die Welt schien versunken hinter den wirbelnden Schneeflocken, die lautlos gegen die Scheiben trieben. Die Stille hatte ihren wilden Herzschlag längst wieder in gemäßigten Rhythmus gebracht. Fast machte es sie traurig. Sie wusste nicht, warum sie hier war.
    Erleichtert hatte sie dann die Schritte wahrgenommen, von denen sie annahm, dass sie zu einem der Wachhabenden gehörten, denn es waren die gemessenen Schritte eines Soldaten. Sie hatte sich von den Fenstern abgewandt und der groß gewachsenen Gestalt entgegengesehen, die aus dem Grau der Schatten auf sie zukam.
    Als sie der Maske gewahr wurde, erschrak sie. Noch während sie seinen Namen aussprach, legte er ihr den behandschuhten Finger auf die Lippen. Sie schwieg, während er ihre Taille umfasste und sie mit sich zog. Sie schwieg, als sie ihm in ein dunkles, ungeheiztes Zimmer folgte, das sie in den folgenden Monaten oftmals heimlich wiederzufinden suchte.
    Sie hatte keine Angst gespürt, nein. Das verschwörerische Klicken seiner Stiefelabsätze auf dem Parkett hatte sie euphorisch gemacht. Als er sie küsste, war sie für den Bruchteil einer Sekunde überwältigt. Erst dann dachte sie, dass sich sein Bart dichter anfühlte und seine Lippen voller. Wie hätte sie misstrauisch werden sollen? Bislang hatte sie seinen Mund
nur auf ihrem Handrücken zu spüren bekommen oder auf der Stirn.
    Es fiel ihr leicht zu schweigen.
    Als dann geschah, was ihr unmöglich zu benennen war, in strenger Stummheit, während sie sich ihres heftigen Atems schämte und auch wieder nicht, weil sie glauben wollte, er habe eine Sehnsucht in sich getragen nach dem, was er jetzt mit ihr tat und worauf sie in der Hochzeitsnacht und in vielen weiteren Nächten der vergangenen Jahre vergeblich gewartet hatte.
    Ihr war fremd, was sie nur dieses einzige Mal erleben sollte. Und als die plötzliche Heftigkeit des Geschehens auf der ächzenden Récamiere in einem erstickten Laut ihr Ende fand, dachte sie: Endlich werde ich ein Kind bekommen. Herr im Himmel, lass mich ein Kind haben!
    Den Schrecken, der sich seit dem darauffolgenden morgendlichen Besuch des Königs in ihr auszubreiten suchte, beschloss sie mit den Eigenschaften ihres rechtschaffenen Charakters in Schach zu halten.

Eins
    FEBRUAR 1828
    Die Wolken hatten sich über der Stadt zu einer bleiernen Decke zusammengeschoben. Während der Tag sich übergangslos in die Dunkelheit verabschiedete, brachte ein Fuhrwerk die Hebamme Gesa Heuser zum Gut eines Großbauern, das vier Stunden Fußweg von Marburg entfernt lag. Es war eine ruppige Fahrt mit harten Stößen, die ihr einige blaue Flecken einbringen würden. Zwischen den Äckern sprengten die Wagenräder vereiste Erdklumpen aus den gefrorenen Furchen des Weges, und die Fackeln am Kutschbock stießen ihre unruhigen Flammen in die

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