Die Visionen von Tarot
war für die neue Professorengeneration, dann war das College heute sogar noch liberaler als damals.
Als sich die Dunkelheit senkte, erschienen noch mehr Menschen und setzten dem Wiesenhügel helle Tupfen auf. Auch die Mücken schwärmten herbei. Vor Paul ließ sich ein Pärchen nieder, das mehr mit seiner geflüsterten Unterhaltung beschäftigt war als mit dem Vortrag. Das Mädchen kicherte ständig. Um den Hügel herum zog sich ein Gemurmel anderer Unterhaltungen. Drei Hunde schnüffelten umher, spielten um die Sitzenden herum und taten die üblichen Dinge, die Hunde zu tun pflegen. Einige Leute gingen wieder. Offensichtlich wurde dies nicht als Veranstaltung angesehen, an der man von Beginn bis zum Ende teilnehmen mußte, sondern eher als ein Zwischenstop, eine Art von ständigem Unterhaltungsprogramm niederen Niveaus, das man nur häppchenweise genießen konnte. Es gab einige Fragen an den Redner, die recht individualistische Standpunkte widerspiegelten.
Innerlich staunte Paul, während er sich noch darum sorgte, ob das feuchte Gras nicht seine Kutte fleckig machte. Er hätte Jeans anziehen sollen. Kein Zweifel: Das schwingende Pendel des Konservativismus hatte schon lange die Richtung gewechselt. So waren Veranstaltungen zu seiner Zeit auch oft gewesen.
Schließlich wurde die Veranstaltung beendet. Paul ging hinüber zum nächsten Tagungsort, wo er seinen Vortrag halten sollte. Das Thema lautete natürlich: „Der Gott von Tarot“. Er sollte als zweiter an die Reihe kommen; der erste Vortrag dauerte gut über eine Stunde. Er war recht interessant, doch dies bedeutete, daß es weit über seine normale Schlafenszeit sein würde, ehe er überhaupt an die Reihe kam. Zu diesem Zeitpunkt war sich Paul nicht mehr sicher, ob sein Material der Zuhörerschaft entsprach. Er hatte es so ausgewählt, daß es nicht zu abstrus klang, um nicht konservativere Geister als ihn selbst zu beleidigen. Nun hatte sich der ungewöhnliche Fall herausgestellt, daß der Campus heutzutage weniger konventionell wirkte, als Paul selbst war, und dadurch wurde ihm ein wenig unbehaglich. Er hatte sich nicht so sehr geändert und war gewiß nicht allgemein konservativer geworden: Aber das College hatte sich auf unerwartete Weise verändert. Das war bestimmt nicht falsch, brachte ihn jedoch aus der Fassung und machte ihn desorientiert. Er schien nun tatteriger, als er eigentlich war.
Dann kam Will Hamlin. Er war älter, grauer geworden, aber man konnte ihn sogleich erkennen, und zwar auf zwei verschiedene Arten. Zum einen spielte Therion seine Rolle. Paul sprang auf, um ihm die Hand zu schütteln. Zu mehr hatten sie auch keine Zeit, denn es war wirklich mitten in einer Rede.
Paul las seinen Vortrag ab und erklärte einige der erstaunlichen Phänomene, in denen sich der Gott von Tarot manifestiert hatte, und dann war endlich die Veranstaltung beendet. Es gab keine besonderen Kommentare – die anderen waren sicherlich ebenso müde wie er auch. Er suchte Carolyn, und zusammen fanden sie den Weg zu ihrem Zimmer. Es war natürlich weit über die Schlafenszeit des kleinen Mädchens hinaus und auch spät für Paul, aber sie ging niemals auch nur eine Sekunde früher ins Bett, als sie mußte, und genoß es sichtlich.
Schade, daß es keine weitere Gelegenheit gegeben hatte, mit Will zu reden, auch nicht in der Ersatzrealität der Animation. Zwanzig Jahre – die Welt hatte sich für sie beide vollständig geändert, doch die Umstände hatten ihnen nur ein bloßes Händeschütteln gewährt. Nicht daß Will in der langen Zwischenzeit häufig Pauls Gedanken beschäftigt gehabt hätte, und sicher war Paul auch niemals ein grundsätzlicher Teil in Wills Gedanken gewesen (für Will waren Grundsätzlichkeiten die wichtigsten Begriffe). Es handelte sich zufällig nur um die Gegenüberstellung von verschiedenen Typen, die die Zeit weit auseinandergetrieben hatte. Vor zwanzig Jahren waren Pauls späterer Erfolg im Leben und Wills weiteres Verbleiben am College gleich unwahrscheinlich gewesen – doch beide hatten sich durchgesetzt, und dies war der Augenblick der gegenseitigen Bestätigung. Die angemessenere Einheit der Denkungsart zeigte sich auch nur selten offen …
„Daddy, lesen wir noch?“
Gewöhnlich lasen sie des Abends, und wenn es auch schon sehr spät war, hielt Paul es für das beste, das Ritual beizubehalten. Er versuchte seiner Tochter dadurch nebenher etwas beizubringen wie auch die Nähe zwischen ihnen beiden noch zu verstärken. Sie war
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