Die Visionen von Tarot
neunundneunzig Prozent der Bevölkerung einfach zu beschäftigt mit ihren alltäglichen Dingen waren, um ihre Aufmerksamkeit auf etwas …
Er stieß gegen einen am Wegrand Stehenden. „Entschuldigung“, murmelte Bruder Paul. „Ich wollte gerade nachsehen …“ Aber der Mann nahm keine Notiz von ihm.
Bruder Paul schob sich bis nach vorn vor, und schließlich erhaschte er einen Blick auf das Gesicht des Kreuzträgers. Es war nicht Jesus!
Dann lachte er mit großer Erleichterung, wenn auch seine Bekümmerung dadurch nicht schwand. Jesus hatte sein Kreuz gar nicht selber getragen. Nach den Schlägen, die er erhalten hatte, war er zu schwach dazu gewesen, so daß man einen anderen Mann gezwungen hatte, dies für ihn zu übernehmen.
Bruder Pauls Lachen hatte für einen Moment die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Die Leute wichen vor ihm zurück, und ein römischer Soldat blickte ihn finster an.
Nun erblickte er Jesus, der ein paar Schritte darauf folgte. Er trug die Dornenkrone und hielt den Blick gesenkt. Er sah bleich aus, und über die Stirn tröpfelte das Blut, wo die Dornen die Haut geritzt hatten. Aber er ging ohne fremde Hilfe.
„Oh, Jesus“, keuchte Bruder Paul. „Ging es denn nicht anders?“ Aber dann hätte es kein Christentum gegeben …
Langsam zog sich die Menge auf den Hügel zu. Die Geschwindigkeit bestimmte der Mann, der unter der Last des Kreuzes taumelte. Bruder Paul ging mit ihnen, immer auf der Hut, sich auch in der Animation nicht in den geschichtlichen Ablauf einzumischen und weitere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er versuchte aber, dicht genug an Jesus heranzukommen, um dessen Aura spüren zu können. Doch der römische Soldat behielt ihn im Auge und schickte ihn mit einem Blick weiter fort. Bruder Paul fiel zurück.
Sie gelangten an das große Stadttor. Dahinter lag der düstere Ort namens Golgatha, was, wie sich Bruder Paul erinnerte, Schädelstätte bedeutete.
Nun verstreute sich die Menge, während die Soldaten den Boden für die Kreuzigung vorbereiteten. Es war notwendig, ein so tiefes Loch zu graben, daß die Kreuze darin aufrecht standen. Es herrschte ein ziemliches Gedränge, denn zwei weitere Opfer waren mit ihren Kreuzen dort angelangt. Der religiöse Fanatiker bekam keine eigene Vorstellung! Aber Jesus stellte dennoch den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit dar.
Einige Frauen näherten sich, und die beschäftigten Soldaten ließen sie zu, weil Frauen offensichtlich als harmlos galten. Bruder Paul versuchte, zusammen mit ihnen näher zu rücken, aber wiederum machte ihn der Soldat aus und winkte ihn mit eindeutiger Geste zurück. Die Römer waren sehr geschäftig und relativ gleichgültig. Offensichtlich mochten sie ihre Tätigkeit nicht, aber sie hatten es schon zuvor erledigt und folgten nur einem Befehl. Außerdem wollten sie die Lage in der Hand behalten. Bruder Paul trat zurück: Es war ihm noch immer nicht gelungen, Jesu Aura durch Kontakt zu bestätigen.
Die Frauen sammelten sich unter Tränen um Jesus herum. Einige trauerten höchst wortreich. Zu Bruder Pauls Zeiten hatte der Ausdruck ‚klagen’ einen negativen Beigeschmack, doch hier klang die Klage echt: die leidenschaftliche Äußerung äußerster Bestürzung, die Mark und Bein erschütterte, und an deren Aufrichtigkeit nicht zu zweifeln war. Abendländer konnten Gefühle nicht so offen zeigen, und vielleicht war dies ein Mangel.
Jesus richtete sich auf und ergriff zum ersten Mal, seit Bruder Paul zu der Gruppe gestoßen war, das Wort. „Oh Töchter Jerusalems, weint nicht um mich. Weint um euch und eure Kinder!“
Überrascht verstummten sie. Jesus redete weiter zu ihnen, doch Bruder Paul, der mithören wollte, wurde durch eine grobe Hand auf der Schulter gestört. Erstaunt drehte er sich um. Dort stand ein römischer Söldner mit seinem eindrucksvollen Helm, Panzerhemd und gegürtetem Kurzschwert.
„Statthalter Pilatus will mit dir sprechen“, sagte der Soldat kurzab.
Oh nein! Das war das letzte, was Bruder Paul wollte, sich in die Geschichte hineinziehen lassen! Natürlich hatte er keinen Einfluß auf die wirkliche Geschichte, aber wenn seine Anwesenheit die Animation verzerrte, würde er die Wahrheit nicht finden können. War die Realität des Heiligen Geistes etwas prinzipiell Unerkennbares?
Nein! Es war besser zu glauben, bei der Kreuzigung sei ein Mensch wie er dabei gewesen, der mit Pontius Pilatus gesprochen hatte. Bruder Paul steckte lediglich als Gast in dessen Körper, wie bei dem Transfer,
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