Die Visionen von Tarot
alles beschleunigen und zurück in seinen Palast. Aber daß Bruder Paul diese Sache selbst tun sollte …
Aber wenn er sich weigerte, veränderte er vielleicht die Geschichte und verlor die Aura aus den Augen. Er hatte in früheren Animationen versucht, seinen Willen durchzusetzen und war der Kraft der Präzession unterlegen. Das konnte er sich nun nicht leisten. Er mußte die Vision ihren Gang gehen lassen, da er sich nun einmal hier befand.
„Vergib mir“, murmelte er mit brüchiger Stimme. Dann nahm er einen neuen Nagel, setzte ihn auf Jesu blasses Handgelenk, nahm sich unter großer Willensanstrengung zusammen – und spürte den Kontakt der Aura. Es war die gleiche, die er in der vorigen Szene gespürt hatte: unglaublich stark, stärker als seine eigene, elektrisch, allumfassend und wunderbar – der Heilige Geist.
Jesus reagierte. Seine Augen starrten direkt nach oben in die wirbelnden Wolken, und sein Körper bewegte sich nicht, doch er war sich offensichtlich der Aura Pauls ebenfalls bewußt. „Paul“, murmelte er. „Der Bergsee …“
Bruder Paul ließ den Hammer fallen. „Ich kann es nicht!“
Jesus sah ihn immer noch nicht an. „Tu es, Bruder“, sagte er. „Mein Fleisch leidet nicht, wenn ein Freund den Hammer schwingt. Laß mich nicht durch die Spötter ans Kreuz schlagen.“
Und Bruder Paul konnte sich dieser Bitte nicht widersetzen, nahm den Hammer und schlug den Nagel hinein. Das Fleisch war kaum schwerer zu durchdringen als die Holztafel.
Dann wandte er sich ab und übergab sich.
Grobe Hände zerrten ihn hinab. Als er sein Gleichgewicht zurückerlangt hatte, war Jesus schon von den Soldaten angeschlagen und das Kreuz aufgerichtet worden. Jetzt stampften sie den Boden um den Fuß fest, um es aufrecht zu halten.
Jesus hing an den grausamen Nägeln mit der entwürdigenden Tafel über dem Kopf. Man hatte ihn gekreuzigt. „Vater, vergib ihnen“, sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht, „denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Plötzlich brach der Sturm los. Die Mittagssonne, die sich bereits hinter erstaunlich dichten Wolken verzogen hatte, verschwand vollständig, und die gesamte Szenerie verdunkelte sich. Der Boden erzitterte. Wind peitschte so heftig über den Berg, daß die Kreuze fast umgeweht wurden.
„Ein Wirbelsturm“, murmelte Bruder Paul. Aber das war nicht der Fall, denn es gab keine Trichterwolke. „Ein Erdbeben.“ Aber wenn sich auch der Boden bewegte, so konnte es doch nicht die Dunkelheit verursachen. Und es war auch kein normaler Sturm. Es roch sonderbar verbrannt, als breite sich die Hölle selbst auf der Erde aus.
„Ein Vulkanausbruch!“ schrie er, und das traf es schließlich. Eine gewaltige Druckentladung, die einen Ascheregen auslöste, der die Sonne verdunkelte. Eine Explosion, wie bei dem Beben von Thera im Jahre 1400 v. Chr. in der gleichen Gegend, das den gesamten Mittelmeerraum erschütterte hatte – gleichzeitig mit der Exekution Jesu …
Zufall?
Bruder Paul blickte auf Jesus, der immer noch unter Qualen dort hing. Wie konnte diese Verdunkelung, dieses Stöhnen der Erde selber Zufall sein? Aber wenn Gott gegen das Opfer seines Sohnes derart protestiere, warum hatte er nicht vorher eingegriffen, um es zu verhindern? Selbst jetzt wäre es viel dramatischer, wenn das Kreuz niedersänke und seinen Gefangenen freigäbe. Dramatische Phänomene, deren Ursprung und Zweck die Zuschauer nicht begriffen – das war vergeudete Mühe. Die meisten Einwohner Jerusalems würden es nicht mit der Kreuzigung in Verbindung bringen.
Er kannte die Antwort: weil dieses Opfer für Sein Ziel notwendig war. Jesus Christus mußte in dieser auffallenden und endgültigen Art sterben, damit seine Auferstehung auch Bedeutung gewinnen würde. Gott erbat sich von niemandem etwas, was er nicht auch von seinem eigenen Sohn verlangen würde – und hier war der Beweis in Form des schrecklichsten, entwürdigendsten und scheinbar sinnlosesten Todes, den diese Gesellschaft verhängen konnte. Hier lag der Beweis, daß jeder Mensch, für wie unbedeutend er selbst sich auch hielt, der Erlösung teilhaftig werden konnte. Wenn er nur dem Beispiel Jesu folgte und glaubte.
Aber Bruder Paul wagte nicht zu glauben – denn er war hier, um objektiv die Präsenz oder Absenz des Heiligen Geistes zu untersuchen und festzustellen. Ohne diesen Geist würde es nach der Auslöschung dieses Körpers kein überlebendes Bewußtsein geben. Kein Lachen nach dem Tode – weder für Jesus noch für irgend
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