Die Visionen von Tarot
Paul halb scherzhaft.
„Dann schreib das.“ Fertig.
Bruder Paul nahm ein Stück Kalkstein und schrieb die sieben Worte so sauber und deutlich wie er nur konnte, DIES IST DER K ÖNIG DER JUDEN.
Als er fast damit fertig war, kam ein Tempelpriester vorbei. „Das stimmt doch nicht!“ protestierte er. „Er ist doch nicht wirklich der König der Juden. Du hättest schreiben sollen, er sagt, er sei der König der Juden.“
„Mach dich fort“, murmelte Bruder Paul.
Wütend ging der Priester weiter, um sich beim Statthalter zu beschweren. Nach einem Moment ertönte über das Gemurmel und Getöse der Kreuzaufrichtung hinweg Pilatus’ halbironische Antwort: „Was ich einmal geschrieben habe, bleibt stehen.“
Innerlich lächelte Bruder Paul. Pontius Pilatus hatte sich als Urheber der Tafel bezeichnet und damit alle weiteren Klagen verhindert.
Auch der Söldner lächelte kurz. „Geschieht dem Heuchler recht“, sagte er mit einem Seitenblick auf den verärgerten Priester. „Diese Bande würde ich gern allesamt am Kreuz sehen.“ Er las die Tafel. „Steht da wirklich Er konnte natürlich nicht lesen. Daher hatte Pilatus einen gebildeten Freiwilligen gebraucht. Andernfalls hätte er die Worte selber schreiben müssen, und das wäre unter seiner Würde gewesen, ebenso, wie er sich dadurch weiter in die Sache verwickelt hätte, bei der er eigentlich seine Hände in Unschuld waschen wollte. „Ja, das stimmt“, versicherte Bruder Paul ihm.
„Das müßte König Her ödes sehen!“ meinte der Söldner lobend. Offensichtlich hatte er etwas gegen den gesamten aufrührerischen Stamm der Juden und beteiligte sich an jeder Beleidigung gegen sie. „Bring das nun zum Kreuz. Schnell, ehe sie es aufrichten.“
Plötzlich hatte Bruder Paul einen echten Grund, sich Jesus zu nähern. Doch nun, wo er die Gelegenheit hatte, wich er zurück. Wie konnte er sich unmittelbar an dieser Grausamkeit beteiligen?
„Schnell!“ schnappte der Söldner, und seine Hand fuhr zum Schwertknauf. „Sie richten ihn schon auf!“
Bruder Paul setzte sich in Bewegung. Er brachte die Tafel zum Kreuz, das noch auf dem Boden lag. „Der Statthalter hat gesagt, dies hier soll …“
„Meine Güte“, meinte ein anderer Soldat. „Steck’s doch hin, wo du willst …“
„Ist schon in Ordnung“, meinte der erste Soldat, der hinter Bruder Paul hergekommen war. „Der Statthalter hat es befohlen.“
Der andere zuckte die Achseln. „Wenn du das sagst, Longinus. Hier, nimm du den Speer. Ich brauche meine Hände.“
Longinus nahm den Speer. „Schlag es über seinem Kopf an“, sagte er zu Bruder Paul. „Sie legen ihn gerade darauf.“
Und während Bruder Paul die Tafel festhielt, legten sie Jesus auf das Kreuz, stellten seine Füße auf das kleine Brett und streckten die Arme auf den Querbalken aus. Jesus war nun fast nackt. Sie hatten ihm alle Kleider bis auf den Lendenschurz fortgenommen : Dies war eine weitere Demütigung bei dieser Art von Exekution. Es reichte nicht, daß der Mann starb: Er mußte auch ohne Würde sterben. Paul schien das Herz stillzustehen. Gab es keinen Weg, dieser Schrecklichkeit zu entgehen? Aber das war natürlich unmöglich.
Ein Soldat reichte ihm einen schweren Hammer – fast wie ein Schmiedehammer – sowie einen langen Eisennagel. „Direkt über den Kopf“, sagte er.
Bruder Paul legte die Tafel auf den oberen Teil des Kreuzes, setzte den Nagel darauf und schlug zu. Es war ein hartes Stück Arbeit, denn der Nagel war handgefertigt und leicht gekrümmt, aber er nahm sich Zeit und erledigte es sorgfältig.
„Gut“, sagte der Söldner zustimmend. „Und jetzt seine Hand.“
Entsetzt starrte Bruder Paul den Söldner an. „Ich kann nicht.“
Der Söldner zwinkerte. Er schien Schwierigkeiten mit den Augen zu haben. Es war wohl eine chronische Sache, die nichts mit der Kreuzigung zu tun hatte. Irgend etwas verursachte eine Rötung der Augäpfel und ständige Schmerzen. Bruder Paul war sicher, daß dieses Leiden die Laune des Mannes auch nicht gerade besserte. „Komm schon, wir vergeuden hier nur Zeit. Du hast den Hammer, und hier ist ein Nagel … schlag ihn durch das Handgelenk, genau in der Mitte, damit er sich nicht losreißt. Der Statthalter will, daß wir hier schnell fertig werden.“
Bruder Paul blickte hinüber zu Pontius Pilatus, der immer noch zu Pferde saß. Der Wind hatte beträchtlich zugenommen, und Wolken ballten sich zusammen. Es würde einen Sturm geben. Natürlich wollte der Statthalter
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