Die Voegel der Finsternis
hatte keine andere Wahl. Er war ein edler Herr, ein Gast ihres Gebieters - Lord Indol hatte ihm bestimmt ein luxuriöses Bad mit Massage versprochen. Die Lords stellten hohe Ansprüche an die Einhaltung ihrer gesellschaftlichen Regeln. Was würde Lord Indol sich seine Ehre kosten lassen, wenn dieser Herr sich beschwerte? Es waren niemals die Reichen, die zur Kasse gebeten wurden.
Trotz der Dampfschwaden fröstelte Maeve. Sie bestrich ihre Hände ein weiteres Mal mit Öl. Ein etwa achtjähriger Junge huschte durch den Vorhang, hinter dem Maeve arbeitete. Er brachte frische,
nach Rosen duftende Handtücher. Es war Devin, das neue Kind. Seine Eltern, die Freigeborene von niederem Stand gewesen waren, waren gestorben, und als Waise in Sliviia war ihm ein schweres Los beschieden. Der Tod der Eltern war ein Unglück, dem oft die Sklaverei folgte, wenn keine Verwandten da waren, die für den Waisen aufkommen konnten. Entsprechend seiner Herkunft als Freigeborener, war Devin im Gesicht und am Hals noch nicht gezeichnet. Lord Indol hielt sich an einen strengen Zeitplan und hatte nur einen Vormittag im Monat für diese Tätigkeit reserviert. Maeve wusste, dass viele Lords ihren Haushalt anders führten und ihren Sklaven ganz nach Laune Schnitte zufügten, bis deren Hälse nicht mehr aussahen wie die von Menschen und ihre Haut von Wülsten übersät war. Lord Indol schien kein Vergnügen am Schneiden zu finden, trotzdem würde Devins Leidenstag nicht mehr lange auf sich warten lassen. Als Devin die Handtücher auf eine Ablage neben der Liege legte, stieg Rosenduft in Maeves Nase und beruhigte ihren krampfenden Magen. Rosen . . . das ist falsch . . . Herren bevorzugen Patschuli oder Sandelholz, manchmal auch den Duft der Bergamotte .. , Maeve warf Devin einen warnenden Blick zu. Geh fort. Gefahr. Er aber lächelte nur und schüttelte hinter dem Vorhang den Kopf, als spielte sie ein Spiel mit ihm.
Mit einem Satz sprang der Mann von der Liege und ergriff wortlos seinen Patrier. Er packte Devin am Kittel
und riss den Jungen zu sich. Maeve sah, wie sich beider Blicke ineinander verkrallten. Devins Augen weiteten sich hilflos angesichts des durchdringenden Starrens des Lords. Der Patrier schnitt tief in Devins Gesicht und zeichnete ihn fürs Leben. Zeichnete ihn.
Maeve floh und schrie nach Orlo. Orlo eilte herbei, war aber auf der Hut. Er kannte seinen Platz. Lord Morlen war zu weit gegangen, einen fremden Sklaven in einem privaten Badehaus zu zeichnen. Trotzdem war es gefährlich, sich einem Lord zu nähern, der ein Patrier in der Hand hielt. Außerdem war Lord Morlen nicht irgendein Lord. Verflucht sei er, dass er den Frieden hier stört, dachte Orlo. Kaum einer hätte gewagt, das Gesetz so offen zu brechen, doch Morlen würde sich niemals ein Fehlverhalten nachsagen lassen. Diesem Mann, der angeblich reicher war als Kaiser Dolen selbst, wagte niemand zu widersprechen.
Orlo zog den Vorhang zur Kammer beiseite und sah, wie Lord Morlen sein Messer auf die Stirn des Jungen richtete. Das Kind wimmerte, von seinen Wangen floss Blut „Mein Herr!" Orlo versuchte, einen demütigen, dennoch bestimmten Ton anzuschlagen. Morlen sah auf. „Was gibt es?"
„Mein Herr, ich bin untröstlich, dass Ihr gekränkt wurdet, doch dieses Kind, das Ihr schneidet, ist der neue Sklave von Lord Indol."
„Dir ist deine Stelle hoffentlich viel wert", sagte Lord Morlen. Er ließ Devin los und schubste ihn gleichgültig zu Boden. „Dem Jungen fehlt Erziehung." Orlos Herz hämmerte so stark, dass er sicher war, man konnte es durch seine Rippen schlagen sehen. „Vergebung, Herr." Er hoffte, Morlen würde gehen, ohne weiteren Arger zu machen.
Devin saß wimmernd am Boden und hielt sich das Gesicht Maeve kniete neben ihm und streichelte ihn, während Orlo seine Wunden versorgte. Ein paar Sklaven spähten neugierig herein und verzogen sich rasch wieder, als sie Lord Morlen erblickten, der sein Patrier abwischte.
Maeve kauerte sich auf den warmen Boden und hielt Devin im Arm.
„Ist das Mädchen auch neu?", hörte sie.
„Maeve gehört seit Geburt zu Lord Indols Haushalt,
Lord Morlen", antwortete Orlo.
Lord Morlen! Maeve hielt den Jungen noch fester. Orlo hätte sie warnen sollen. Die Sklaven erzählten sich allerlei Geschichten über Lord Morlens Reichtum und seine Grausamkeit. Es hieß, er würde seine Feinde in den Wahnsinn treiben, ohne auch nur Hand an sie zu legen. Maeve wäre am liebsten aufgesprungen und davongelaufen, irgendwo hin, nur
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