Brenda Joyce
Kapitel 1
DONNERSTAG, 6. FEBRUAR 1902 – 9 UHR
»Was halten Sie von dem hier, Miss Cahill?«
Francesca gab sich große Mühe, geduldig zu sein, was ihr nicht leicht fiel. Sie
warf einen Blick auf die schimmernde, aprikosenfarbene Seide, die Maggie
Kennedy in die Höhe hielt. »Ehrlich gesagt, dieser Stoff ist ebenso hübsch wie
die anderen«, sagte Francesca. Dabei ging ihr durch den Kopf, ob ihr Vater
wohl bemerkt hatte, dass eine seiner Morgenzeitungen fehlte. War es wirklich
schon neun Uhr? Wie lange würde diese Anprobe wohl noch dauern? Auf Francesca
warteten zwei Seminare am Barnard College, einer sehr exklusiven Hochschule für
Frauen, an der sie sich heimlich eingeschrieben hatten. Ihre Mutter ahnte
nichts davon, und Francesca wusste, dass sie die Vorstellung verabscheute, dass
ihre jüngere Tochter jemals als Blaustrumpf tituliert werden könnte.
Denn eine Intellektuelle zur Tochter zu haben – und eine
waschechte Reformistin noch dazu –, würde Julia van Wyck Cahills Pläne
durchkreuzen, Francesca so schnell wie möglich unter die Haube zu bringen.
Francesca
seufzte vernehmlich.
»Das Blau
würde Ihnen aber auch wirklich gut stehen, Miss Cahill«, murmelte Maggie, die
mittlerweile inmitten von Nadeln, Nadelkissen und Maßbändern zu Francescas
Füßen kniete.
»Ach, bitte, Mrs Kennedy,
nennen Sie mich doch Francesca«, sagte sie mit einem aufrichtigen Lächeln und
blickte zu der rothaarigen Frau hinunter.
Maggie
erwiderte das Lächeln zögernd. »Es wäre wohl das Beste, aus dem blauen Stoff
ein Tages-Ensemble zu machen. Der Stoff ist etwas fester, und ein tailliertes
Jäckchen und ein Rock wären wohl am vorteilhaftesten.«
»Klingt
wundervoll«, erwiderte Francesca, der es eigentlich gleichgültig war.
Inzwischen war ihr Vater, Andrew, gewiss schon längst zum Frühstück hinuntergegangen
und hatte entdeckt, dass ihm nur die Times und die Tribune zum
Lesen zur Verfügung standen. Großer Gott, welcher Teufel hatte sie nur
geritten, als sie diesen Reportern am vergangenen Dienstag, als sie im Plaza
weilte, ein Interview gab? Offenbar hatte ihr Stolz dabei ihren gesunden
Menschenverstand besiegt. Die Zeitungen des Vortages waren voller Details über
den Randall-Mord gewesen, aber Francescas Name war in dem Zusammenhang nicht
erwähnt worden.
Und das,
obwohl sie den Fall gelöst hatte.
»Was halten
Sie von Zinnoberrot für ein Abendkleid? Die meisten Blondinen können diese
Farbe nicht tragen, aber Sie mit Ihrem Honigblond – also Ihnen würde das gewiss
stehen«, sagte Maggie, die sich wieder erhoben hatte.
»0 ja, ich
mag Rot«, sagte Francesca geistesabwesend.
Maggie
blickte ihre Kundin zweifelnd an, als spürte sie, wie wenig sie sich in
Wahrheit aus den zehn neuen Kleidern machte, die sie soeben bei ihr bestellt
hatte.
»Rot ist eine meiner
Lieblingsfarben«, versicherte Francesca ihr, was eigentlich nicht stimmte, da
sie diese Farbe seit dem Mord an Randall und der Burton-Entführung immer an
Blut erinnerte.
Maggie schritt zu Francescas
riesigem Himmelbett hinüber, das mit Stoffproben bedeckt war. Das Bett stand
gegenüber von einer Sitzgruppe und einem
Kamin und dominierte das große, wunderschöne Zimmer. Die Frau befingerte die
verschiedenen Seiden-, Woll- und Chiffonstoffe.
Francesca blickte sie fragend
an. »Stimmt etwas nicht, Mrs Kennedy?«
»Nein, nein, es ist alles in
Ordnung.« Maggie wandte sich zu ihr um. Sie umklammerte eine Stoffprobe in
einem atemberaubenden Dunkelrot. »Ich war
nur so überrascht, als Sie tatsächlich vorbeikamen und mir sagten, Sie wollten
sich von mir Kleider schneidern lassen. Und dann gleich so viele!«
Francesca
schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Meine Mutter wird entzückt sein, wenn
sie erfährt, dass ich endlich Interesse an meiner Garderobe zeige«, erwiderte
sie, obwohl Letzteres nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Sie
schätzte Maggie auf siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Jahre. Die junge Frau
war zweifellos einmal eine Schönheit gewesen,
aber ein Leben voller Mühsal hatte bereits
seine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, und sie wirkte mindestens fünfzehn
Jahre älter als Francesca, die zwanzig war. Maggie hatte
vier Kinder, und der Älteste, der elfjährige Joel, war Francescas neuer
Gehilfe. Sie hatte ihn erst kurze Zeit zuvor angestellt, nachdem er ihr bei der
Aufklärung der Burton-Entführung und auch bei der Suche nach dem
Randall-Mörder eine unentbehrliche Hilfe gewesen war und sie zudem zweimal aus
einer
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