Die Voegel der Finsternis
jeden Atemzug, während sie auf ihre Tochter wartete.
Maeve stieg eilig in das lauwarme Wasser des unansehnlichen Beckens, das für die Sklaven des Badehauses reserviert war, und nahm ein Bad. Nachdem sie sich gereinigt hatte, erkundigte sie sich nach Devin. Orlo hatte den Jungen, der in Lord Indols Waisenhaus für Sklaven wohnte, zu Bett geschickt. Maeve ging durch den Sommergarten vom Badehaus zum Herrenhaus. Sie eilte die breiten Stufen hinauf und erwartete, von den Oberinnen, die sich gewöhnlich in der Eingangshalle aufhielten, zur Rede gestellt zu werden. Doch alles war still. Dann noch eine Treppe. Niemand. Sie fand die Tür zu Lord Indols Arbeitszimmer. Auch hier war niemand.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie vor der Tür stehen blieb. Sie klopfte. Niemand antwortete. Ihre Angst vor Lord Morlen flößte ihr Mut ein. Sie drehte den Türknauf. Die Tür gab nach. Maeves bloße Füße versanken in einem tiefen Teppich, als sie eintrat. Obwohl es die Zeit war, in der Lord Indol gewöhnlich seine Abendpfeife rauchte und Weinbrand
trank, waren keine Sklaven zugegen, die sonst immer geschäftig hin und her eilten. Der Geruch von Tabak hing in der Luft. Maeve sah sich um. An zwei Wänden standen Regale mit zahlreichen, in Leder gebundenen Büchern. An einer anderen Wand standen Truhen und Schränke aus Holz. Vor einem kalten Kamin - an einem lauen Sommerabend wie diesem musste nicht geheizt werden - standen schwere Sitzmöbel. Öllampen tauchten den vom Zwielicht aus den Ostfenstern erhellten Raum in ein warmes Licht. Auf einem polierten Eichentisch standen eine Weinbrandkaraffe und zwei Kelche - ihr Gebieter schien einen Gast zu erwarten. Wenn dieser Gast Lord Morlen war, was dann? Maeve hörte Männerstimmen vom Flur. Mit zitternden Knien suchte sie nach einem Versteck. Sie öffnete einen hohen Schrank, der schräg in einer dunklen Ecke stand. Er war voller Weinbrandflaschen. Mit einem Knacken wurde der Türknauf gedreht. Maeve kroch hinter den Schrank und drückte sich gegen die Wand, wo kein Licht hinfiel.
2
Lord Indol dachte oft mit Zufriedenheit, dass sein Arbeitszimmer ihm wohl anstand. Die Holz getäfelten Wände, die guten Bücher, die massiven Möbel und kostbaren Teppiche waren geeignet, anderen zu zeigen, was für ein Lord er war. Ein Lord, der - wie Kaiser Dolen - die stolze Tradition von Sliviia pflegte, ein Lord, der sich auf die Künste und die Etikette verstand, ein Lord von Rang, der berühmt für seine Gastfreundschaft war. Nun saß er vor dem großen Kamin und wandte sich seinem Gast zu. Morlen war eine andere Art von Lord. Ein Lord, den er verabscheute. Indol überlegte, wie es wäre, wenn er wie Morlen gehasst und gefürchtet wäre. Von den Sklaven bis zu den oberen Ständen - alle hassten und fürchteten ihn - der Kaiser, wie es hieß, nicht ausgenommen. Vielleicht wusste Lord Morlen nicht, wie verhasst er war, und wenn er es wüsste, würde es ihn wahrscheinlich nicht berühren.
Morlen wohnte nicht in Slivona und pflegte wenig Kontakt zum Hof des Kaisers. Obgleich er unermesslich reich war, hatte er kein Interesse, in der Hauptstadt einen Hofstaat zu unterhalten. Er war auch kein Förderer der Künste und ließ alle wissen, dass er lieber in Mantedi wohnte, der abgelegenen Hafenstadt im Norden, über die der gesamte Seehandel von Sliviia geführt wurde. Leider war Sliviia, bis auf die Bucht von Mantedi, fast vollständig von einer unzugänglichen Felsenküste gesäumt.
Indol mochte Mantedi nicht Dort wohnten nicht nur Tausende von Schiffsbauern, Seeleuten und Sklaven. Die Hafenstadt war auch ein Hort der Freigeborenen. Nur diese waren bereit, in Mantedis düsteren Kohlengruben zu arbeiten, denn die Sklaven, die dort arbeiten mussten, gaben oft auf und starben. Die Freigeborenen aber hielten an ihrem sentimentalen Ideal von Freiheit fest - und überlebten. Warum sie sich frei fühlten in ihrem kurzen Leben innerhalb der dicken Mauern von Mantedi, konnte Indol nicht nachvollziehen. Hier in Slivona hatten die freien Bauern, Händler, Künstler und Kutscher wenigstens einen Grund, auf ihre Freiheit stolz zu sein.
Es hieß, die meisten Menschen in Mantedi würden für Morlen arbeiten, ob sie es nun wussten oder nicht - selbst die Seeleute der kaiserlichen Flotte. Morlen besaß riesige Ländereien in der Wüste im Westen von Mantedi. Niemand wusste allerdings, warum ihm an diesen wertlosen Sandflächen gelegen war, und niemand wagte, ihn danach zu fragen.
Seine Geschäfte
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