Todeshaus am Deich
EINS
Der mäßige Westwind
trieb die Wolken landeinwärts und veränderte fortwährend Formen und Farbspiel
der am Himmel vorbeiziehenden Gebilde. Zwischen die überwiegend düsteren Töne
mischte sich hier und da ein aufgehelltes Grau. An einer Stelle strebten die
fransigen Ränder auseinander und boten einem weißen Fleck mehr Raum.
Den ganzen Tag über
war es bedeckt gewesen. Doch jetzt riss der beständige Seewind die ostwärts
ziehende Wolkendecke auf und zeigte ein Stück mattblauen Himmel. Durch diese
Lücke tasteten sich einige Strahlen der Märzsonne auf das Watt herab, wanderten
südwärts über den Deich und das dahinterliegende feuchte Grün, überquerten den
matt glänzenden Asphalt der Straße und fielen durch das Fenster des modernen,
rot geklinkerten Hauses. Als hätte jemand einen himmlischen Spot angeschaltet,
beleuchteten die Strahlen das Gesicht eines alten Mannes, der langgestreckt in
seinem Bett lag.
Die trüben Augen im
faltigen Gesicht nahmen den Gruß des Himmels aber nicht wahr. Sie waren
geschlossen, während sich der Mund weit geöffnet hatte und den Blick auf die
zahnlosen Kiefer freigab.
Nur schwach war das
Röcheln zu vernehmen, das aus der Kehle drang. Der magere Oberkörper bäumte
sich mit der Kraft auf, die dem alten Menschen verblieben war, und die dürren
Arme griffen panisch zum Hals. Sie wollten den Fremdkörper beseitigen, der sich
im Rachen festgesetzt hatte.
Immer kläglicher
wurde das Atmen, der verzweifelte Kampf um die Luft, die nicht mehr in die
Lunge strömen konnte. Die dünnen Finger verkrampften sich in den Kragenecken
des Hemdes. Der Mann spürte nicht, wie sich sein Fingernagel in die Haut am
Hals eingrub und eine blutige Schramme hinterließ.
Die Brust hob und
senkte sich unter der Bettdecke, bis das Röcheln langsam nachließ, der Körper
in sich zusammenfiel und die linke Hand vom Hals in Richtung Brust rutschte.
Paul Schüttemann
hatte den letzten Kampf seines Lebens verloren. Er war zweiundneunzig Jahre alt
geworden.
*
Das Loch in der Wolkendecke war weitergezogen. Das
milchige Licht des Märzhimmels erhellte den Raum nur matt, als Schwester Regina
nach einem Pro-forma-Anklopfen das Zimmer betrat, das in den letzten Jahren der
Lebensmittelpunkt des alten Mannes gewesen war.
»So, Herr Schüttemann, jetzt wollen wir dem
Mittagsschläfchen ein Ende bereiten«, sagte die gut fünfzigjährige Frau mit dem
mütterlichen Aussehen, strich sich eine vorwitzige blonde Locke aus der Stirn
und eilte ans Fenster, um es auf Kipp zu stellen und die frische Seeluft
hereinzulassen. Dann wandte sie sich dem Bett zu, in dem der Greis auf dem
Rücken lag, die Augen geschlossen und den Mund leicht geöffnet.
»Herr Schüttemann! Sie müssen wach werden.«
Die Stimme der Schwester war eine Spur eindringlicher
geworden. Sie sah auf den Mann hinab. Als dieser sich immer noch nicht rührte,
fasste sie sanft an seine Schulter und bewegte sie. Dann bemerkte sie, dass
sich die Bettdecke mit der mageren Gestalt darunter nicht im gleichmäßigen
Rhythmus der Atemzüge bewegte. Schwester Regina beugte sich zum Kopf des alten
Mannes, fühlte mit zwei Fingern den Puls an der Halsschlagader und erkannte
sofort, dass Paul Schüttemann tot war. Aufgrund der langjährigen Erfahrung
einer auf Altenpflege spezialisierten Krankenschwester, für die die Begegnung
mit dem Tod zum Berufsalltag gehört, war Regina weit davon entfernt, in Panik
zu verfallen.
Sie verließ den Raum, schloss sorgfältig die Tür
hinter sich und ging ruhigen Schrittes über den Flur zum Schwesternzimmer.
»Schwester Regina«, wurde sie auf dem Flur von einer
weißhaarigen alten Frau angesprochen, »können Sie noch mal nach meinem
Fernseher gucken?«
Regina schenkte der alten Frau ein Lächeln.
»Ich sage Gerd Bescheid, Frau Beckerling. Der wird
gleich zu Ihnen kommen.«
»Danke«, hörte sie die Weißhaarige hinter sich
herrufen, bevor sie ins Schwesternzimmer eintrat.
Die Pflegedienstleiterin, Schwester Dagmar, sah kurz
auf, widmete sich dann aber wieder der Aufteilung von Medikamenten, die sie den
zahlreichen Packungen entnahm und gewissenhaft nach Plan in die kleinen Döschen
umfüllte, die mit den Namen der Bewohner des Seniorenheimes versehen waren.
»Herr Schüttemann ist tot«, sagte Regina. Sie setzte
sich auf einen Stuhl und konnte nun doch nicht völlig ihre Erregung verbergen.
Dagmar unterbrach ihre Arbeit.
»Tot?«, fragte sie eher rhetorisch. »Bist du dir
sicher?« Sie schüttelte dabei
Weitere Kostenlose Bücher