Die Vogelfrau - Roman
Labor. Willst du nicht wissen, wie es Eva geht?«
»Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass ich mich nicht traue zu fragen? Dass ich Angst vor der Antwort habe? Ganz egal, ob sie negativ ist oder positiv? Ich habe eine Scheißangst vor der Antwort, und wenn ich mich mit meiner beschissenen Angst beschäftige, dann kann ich mich nicht auf meinen Job konzentrieren. Und im Augenblick helfe ich Eva am besten, wenn ich mich um diesen Fall hier kümmere. Danach werde ich dich fragen. Erst danach. Verstehst du das, Cenk?«
»Ja, Erich. Das akzeptiere ich total. – Wir sollten sie da drinnen nicht zu lange warten lassen.« Er nickte in Richtung der Tür, hinter der Topsannah saß.
»Pass auf, Cenk, du gehst jetzt noch mal rüber und sagst den Kollegen, sie sollen den Indianer damit konfrontieren, dass es nicht irgendeine exotische Therapiesitzung war, die er da durchgezogen hat, sondern dass das ganz klar ein Mordversuch war. Er muss begreifen, dass er seine Stieftochter durch diesen Hokuspokus umgebracht hat. Die arme Frau hat ja später ihr Kind überall gesucht, weil sie dachte, sie schläft nur. Wir brauchen hier ganz sicher einen Psychologen, der mal sehr genau hinhört, ob der gute Herr Adler auch unter Realitätsverlust leidet oder ob das nur seine Masche ist, um sich rauszureden. Wer weiß, was der mit der jungen Frau alles angestellt hat. Vielleicht hatte er allen Grund sie umzubringen? Ich wäre auf jeden Fall erst mal sehr zurückhaltend mit dem Begriff der Unzurechnungsfähigkeit. Bitte sag ihnen das.«
»Wird gemacht. Da ist ein Kollege auf der Reichenau, den sie immer bei solchen Fällen hinzuziehen. Ich kümmere mich persönlich darum. Bin gleich wieder da, Erich.«
›Reichenau‹, hatte Cenk gesagt. Das Wort schmerzte noch immer. Irrenhaus. Dort, wo die Bekloppten sind. Cenk hatte gesagt ›Erich, das akzeptiere ich total‹, als er nicht Genaueres über Evas Zustand wissen wollte. Er hatte nicht gesagt, dass er ihn verstand. Aber das fiel Bloch erst auf, als er schon wieder Topsannah gegenübersaß. Es fiel ihm leicht, nicht weiter darüber nachzudenken.
»Sie haben Ihre Tochter also gefunden, Frau Adler?«
Ihre Stimme wurde immer leiser. »Leider nicht rechtzeitig. Ich bin zu spät gekommen«, flüsterte sie. »Viel zu spät.«
Bloch sprach nun zu ihr wie zu einem Kind.
»Das tut mir aufrichtig leid, Frau Adler. Glauben Sie mir, ich verstehe Ihren Schmerz. Aber ich verstehe noch immer nicht genau, was eigentlich passiert ist. Da müssen Sie mir ein wenig mehr helfen.«
»Es sind zwei Dinge passiert. Das erste war, dass auf einmal Eva auftauchte. Jung wie meine Tochter, groß gewachsen, schlank – von Weitem hätten sie Schwestern sein können. Wahrscheinlich hat er gedacht, ich lasse mich auf den Tausch ein.«
»Eva gegen Sacajawea? Meinen Sie das?«
Wieder wurde ihr Mund zu einem schmalen Strich.
»Ja, genau. Irgend so etwas hatte er sich vorgestellt. Da musste ich erkennen, dass er sich zwar Meister nennt, aber dass er vielleicht doch ein Betrüger ist.«
Cenk betrat den Raum und setzte sich. Alles erledigt, signalisierten seine Augen.
»Diese ganze Prophezeiung ist das nicht ...«, begann Bloch vorsichtig. Topsannah fuhr ihn in wildem Zorn an:
»Sagen Sie nichts gegen die große heilige Prophezeiung. Sagen Sie ja nichts gegen diese ewige Wahrheit! Davon stimmt jedes einzelne Wort! Die Prophezeiung wurde von Generation zu Generation weiter gegeben und fast alle Zeichen sind bereits erfüllt.« Sie begann an den Fingern aufzuzählen und sprach mit fremder, psalmodierender Stimme: »Und das erste Zeichen ward erfüllt, als der weiße Mann den amerikanischen Kontinent eroberte und die Tiere mit dem Donner erschlug. Das zweite Zeichen war das Kommen drehender Räder, die mit Stimmen gefüllt sind.«
Bloch blickte fragend zu Cenk.
»Automobile«, flüsterte der.
Natürlich – so kann man es auch sehen, dachte Bloch. Topsannah hatte währenddessen nicht mit ihrer Litanei innegehalten: »Das Land wird kreuz und quer durchzogen von Flüssen aus Stein und ihr werdet als siebtes Zeichen sehen, dass das Meer sich schwarz färbt und viele lebende Wesen deswegen sterben.«
Ölpest, dachte Bloch. Wir nähern uns also der Neuzeit.
Topsannah sah kurz auf.
»Und jetzt hören Sie genau zu«, meinte sie. »Das geht nämlich uns an. Das achte Zeichen wird sein, dass ihr viele junge Menschen sehen werdet, die die Haare lang tragen und die zu uns, den Indianern, kommen, um unsere Weisheit und unsere
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