Die Vogelfrau - Roman
nichts.
Cenk blieb still. Das Aufnahmegerät surrte.
»Ihr Name ist Sacajawea – das heißt Vogelfrau«, begann Topsannah. »Als ich den Meister kennenlernte, war sie zehn Sommer alt. Er liebte sie wie sein eigenes Kind.«
»Lebten Sie damals schon in Deutschland?«
»Nein, natürlich nicht. Sie hätte hier zur Schule gehen müssen und wäre diesen ganzen verderblichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Es gibt genügend Länder in der Europäischen Gemeinschaft, in denen niemand so genau nachfragt. Und wenn schon – dann waren wir schnell wieder woanders. Nein, Sacajawea hatte eine glückliche Jugend. Sie lebte mitten in der Natur. Das, was sie wissen musste, haben wir ihr beigebracht. Wir sind erst zurückgekommen, als der Meister den Auftrag erhielt.«
»Welchen Auftrag?«
»Das weiß ich nicht so genau. Es geht um diese alte Hopi-Prophezeiung. Es würde wirklich zu weit führen, wenn ich Ihnen das jetzt erklären würde. Aber wir wussten schon seit Langem, dass wir in der Endzeit leben und dass es auch uns treffen kann, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für den Fortbestand der Menschheit, ja, so kann man das wohl ausdrücken.«
Topsannah hatte ihre Hände wieder unter dem Umschlagtuch verborgen und blickte starr vor sich auf die zerkratzte Tischplatte.
»Eine Nummer kleiner ging es nicht?«, konnte sich Bloch nicht verkneifen zu sagen. »Ist das nicht ein bisschen viel verlangt – Verantwortung für den Fortbestand der Menschheit?«
Bloch sah hinüber zu Cenk. Der saß hinter Topsannahs Rücken und vollführte mit dem Zeigefinger kreisende Bewegungen an der rechten Schläfe. Vollkommen übergeschnappt, sollte das wohl heißen. Bloch war ganz seiner Meinung. Aber da war doch eine Spur der Logik und Klarheit in Topsannahs wirrem Gerede. Eine halb verschüttete Spur zwar, vielleicht würde sie ihn, wenn er Glück hatte, auch ein Stück weit zu Eva führen. Davon war Bloch fest überzeugt.
Überzeugt? Nein, es war eher eine vage Hoffnung. Das war wohl bei Polizisten nicht anders als bei Ärzten, die Angehörigen unheilbar Kranker auch immer wieder Mut zusprachen. Eine allzu billige Berufsweisheit, geboren aus der Not des Unvermeidlichen: ›Die Hoffnung stirbt zuletzt‹.
Ob Churchill wirklich bei Meyer war? Ich bin einfach nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, dachte er. Für nichts und niemanden.
Nie.
Eigentlich schade.
»Ich habe ja auch eingesehen, dass ich das nicht kann«, meinte Topsannah fast ein wenig kleinlaut. »Er hat also seine Seminare angeboten und mit den Menschen gearbeitet, die seine Hilfe suchten. Und ich habe mich um den Teil der Menschheit gekümmert, der mir am nächsten stand.« Ein winziges Lächeln irrlichterte um ihre Augen und verschwand sofort wieder.
»Um Ihre Tochter?«
»Ja. Um meine Tochter. Der Meister hat uns dabei geholfen. Es ging vor allem darum, diesen ganzen irdischen Dreck abzulegen und Reinheit zu gewinnen, damit man später zu den Auserwählten gehört. Es sind sehr viele Regeln, die man einhalten muss, wissen Sie. Es ist eine Art eigene Wissenschaft, um es in Ihrer Sprache auszudrücken.«
»Haben Sie denn auch«, Bloch räusperte sich, »irdischen Dreck abgelegt, Frau Adler?« Er vermied den Blick auf Topsannahs schmutzige Hände.
»Ja, sicher.« Jetzt strahlte sie beinahe verklärt. Ihr Blick kehrte sich nach innen. »Ja, sicher. Schon damals, während unserer Zeit in Spanien. Da war Sacajawea noch zu jung. Sie hätte es nicht durchgestanden. Aber ich habe es getan. ER hat mir geholfen und seitdem kann mir diese ganze äußere Welt nichts mehr anhaben, verstehen Sie? Ich lebe im Zustand der immerwährenden Klarheit.« Sie schwieg einen Augenblick, wie um sich zu sammeln, und setzte dann hinzu: »Wenn ich das Ritual nicht abgeschlossen hätte, dann hätten wir nie mehr in dieses Land zurückkehren können. Zu viele Versuchungen, verstehen Sie. Viel zu viel Dreck. – Einem Außenstehenden kann man das vermutlich gar nicht richtig erklären. Sie haben ja niemals diese tiefe Verbundenheit mit der Natur empfunden, so wie wir. Wir sind eine große Gemeinschaft, müssen Sie wissen. Viel größer, als Sie vielleicht denken.«
Bloch dachte an das verkommene Haus und das zugemüllte Grundstück, dachte flüchtig an seine kaputte Kaffeemaschine und das dreckverkrustete Geschirr, das sich schon seit Tagen in seiner Spüle stapelte. Er kam zu keinem klaren Ergebnis und schob diese Bilder wieder beiseite.
»Was ich nicht verstehe, Frau Adler«,
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