Die Vogelfrau - Roman
nahm er einen erneuten Anlauf. »Was ich nicht verstehe, ist, was Eva – das junge Mädchen von heute Vormittag – mit dieser ganzen Sache zu tun hat. Sie ist ja nicht Ihre Tochter. Aber, wenn ich recht verstanden habe, dann hat dieses junge Mädchen ein solches Reinigungsritual durchlaufen. Stimmt das?«
»Ja.« Topsannahs Mund wurde ein schmaler, bitterer Strich. »Ja, auch sie wollte Reinigung erlangen. Der Meister sagte zu mir, sie sei ein Ersatz für Sacajawea. Es war ein großer Schmerz, als ich erkennen musste, dass der Meister nicht unfehlbar ist in seinem Urteil. Denn diese da war unwürdig. – Niemand kann mir meine Tochter ersetzen.«
Cenk war auf einmal hellwach. Er stützte beide Hände auf die Oberschenkel und beugte sich weit nach vorne. Topsannah schien nichts von seiner Anspannung zu bemerken. Ihre Haltung veränderte sich nicht im Geringsten. Sie saß auf ihrem Stuhl wie eine altertümliche Statue. Cenks Blicke begegneten denen von Bloch. Mach weiter, hörte Bloch, obwohl Cenk kein Wort sagte. Mach weiter.
»Erzählen Sie mir, was mit Ihrer Tochter geschehen ist, Frau Adler.«
»Er war es. Er hat Schuld. Ganz allein.«
»Der Meister?« Bloch vermied das Wort Ehemann. Offensichtlich standen die beiden in einer anderen Beziehung zueinander wie normale Eheleute.
»Nein, nicht der Meister. Der Meister gab sein Bestes. Nachdem Sacajawea in den tiefen Schlaf gefallen war, habe ich lange und geduldig an ihrem Lager gewartet. Ich habe darauf gewartet, dass sie ihre Augen wieder aufschlägt und ihr neues Leben beginnt.«
Bloch fühlte einen unangenehmen Schauder. War diese Frau noch bei Sinnen?
»Es dauerte lange«, berichtete Topsannah mit tonloser Stimme. »Viel länger als bei mir. Sie begann ...« Topsannah suchte nach den passenden Worten. »Sie begann sich zu – zu verändern. Wie soll ich Ihnen das erklären?«
Diese Art von Veränderung kannte Bloch nur zu gut. Die hatte er bereits an unzähligen Leichenfundorten gesehen.
Topsannahs Stimme klang ruhig, fast monoton. »Dass die Wärme, ihr Lebensfunke, sich in ihr Inneres zurückgezogen hatte, das hat der Meister mir erklärt und das hatte ich verstanden. Ich konnte aber nicht verstehen, dass ...«, wieder verstummte sie.
Welch eine Knochenarbeit musste es sein, das allzu Offensichtliche so stark zu verdrängen.
»Ich konnte nicht verstehen, warum sie mir auch äußerlich so fremd wurde. Es kam mir vor, als ob sie sich von mir zurückziehen wollte. Das konnte ich nicht ertragen.« Topsannah blickte auf. Eine fettige Haarsträhne hatte sich gelöst und hing ihr ins Gesicht. Sie bemerkte es nicht. Ihre weit aufgerissenen Augen sahen etwas, das sie mühsam zu beschreiben versuchte. »Das konnte ich nicht verstehen – und, ehrlich gesagt, das wollte ich auch nicht. Wir waren noch nie im Leben voneinander getrennt gewesen – meine Tochter und ich. Wir waren doch wie eins.«
Topsannah ergriff das Wasserglas, gab es unschlüssig von einer Hand in die andere und stellte es wieder auf den Tisch zurück. Ihre Hände hinterließen einen zarten Dunstschleier auf dem Glas, der sich nur langsam verflüchtigte. Bloch starrte auf Topsannahs Hände und auf das Wasserglas. Er vermied den Blick in ihr Gesicht.
Sie sprach weiter: »Dann musste ich mit ansehen, wie ihre Haut sich verhärtete. Es war ja am Anfang kaum sichtbar. Es geschah so unmerklich. Es – war nur so ein kleines Zurückweichen, ein Einsinken, ihr Gesichtsausdruck. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Topsannahs Stimme zitterte. »Sie war doch so schön.«
Sie ist auch jetzt noch schön, dachte Bloch und sah das Gesicht der Mumienfrau wieder deutlich vor sich. Die Oberlippe ein klein wenig, wie im skeptischen Lächeln, über die Ränder der Schneidezähne hochgezogen. Die schmalen Bögen der Augenbrauen, wie staunend. Die vertrocknete Nasenspitze, der schmale Grat des Nasenrückens. Fremd musste das gewesen sein für die Augen der Mutter. Der Nasenrücken wie eine Messerschneide, die das Gesicht in zwei symmetrische Hälften zerteilt. Die Augäpfel eingesunken und ausgetrocknet. Kein Gesichtsausdruck, außer dieser vollständigen Zurückgezogenheit. Kein Mienenspiel. Nichts, was sie wiedererkannt hätte.
»Es dauerte zu lange, meinte der Meister. Ich störe ihre Ruhe, sagte er und beschimpfte mich sogar. Meine Tochter sei wie eine Schmetterlingspuppe, die man auch nicht ständig betasten und hin und her wenden dürfe, weil dann der Schmetterling in ihr nicht die nötige Ruhe
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