Die Vogelfrau - Roman
zumindest er nicht verminderte Schuldfähigkeit für sich in Anspruch nehmen konnte? Hier stritten sich die Gutachter noch.
Nach einem Jahr war die Leiche vollkommen mumifiziert und auch Topsannah, erschöpft von ihrer ewigen Totenwache, war inzwischen dem Tode näher als dem Leben. Da hatte der Meister sich entschlossen, einen Schlussstrich zu ziehen, wie er sich ausdrückte. Er wickelte die Mumie in große, weiche Lederstücke und Topsannah befestigte als letzte Liebesgabe ein mit Türkisen besetztes Amulett auf der Brust der Toten.
Wie er die Leiche unbemerkt zum Ritualort, zur Baustelle unter der Brücke geschafft hatte, ob er Hilfe hatte – eventuell von anderen Schülern, wie Bloch mutmaßte -, darüber konnten sie Adler kein Wort entlocken. Fest stand auf jeden Fall, dass er Professor Hoffmann längere Zeit vorher bei dessen ebenfalls nächtlichem Treiben beobachtet hatte. ›Ich dachte, das ist auch so einer wie ich‹, hatte er freimütig erzählt. Den Drudenfuß kenne doch jeder, der sich mit magischen Ritualen beschäftige. Adler, der Meister, hatte also gesehen, wie Hoffmann in allergrößter Heimlichkeit zuerst den Stern zusammenfügte und später die Schädel an den Sternspitzen deponierte. Adler hatte angenommen, dass Hoffmann, gleich ihm, einen Begräbnisplatz für die Opfer dunkler Rituale schuf. An gefälschte archäologische Ausgrabungen dachte er nicht im Geringsten. Und als sie ihm erklärten, was es mit dem fünfzackigen Stern auf sich gehabt hatte, hatte er die Vernehmungsbeamten zuerst lange und prüfend angeschaut und war dann in minutenlanges, irres Gelächter ausgebrochen.
›Und ich dachte, das ist so einer wie ich‹, war das Einzige, was er unter Keuchen und Prusten herausbrachte. Als er sich wieder beruhigt hatte, erklärte er, dass er damals die Mitte des Sterns als idealen Ruheplatz für Sacajawea ausgewählt und gehofft hatte, dass sich Topsannah wieder beruhigen würde, wenn die Mumie erst einmal aus dem Haus sei.
Das Gegenteil war leider der Fall gewesen. Adler erzählte es mit aufrichtigem Bedauern. Bei Indianern herrsche eine traditionelle und äußerst rigide Rollentrennung. Niemals würde sich ein Mann mit Haushaltspflichten beschäftigen. Aber gerade dazu war Adler nun gezwungen, denn seine Frau machte sich auf eine irre Suche durch Konstanz, trieb sich tagelang herum, kam kaum mehr nach Hause und vermutete ihre Tochter an den unmöglichsten Orten. Adler war gezwungen, sich das Essen selber zuzubereiten, zu putzen, zu waschen und was derlei unwürdige Tätigkeiten mehr sind. Seine tiefe Kränkung über diese Situation schilderte er den Vernehmungsbeamten mit bewegten und eindringlichen Worten.
Es kam, wie es kommen musste. Topsannah erfuhr vom Fund der Mumie aus der Zeitung. Es brachte sie beinahe um die letzten Reste ihres Verstandes, als Sacajawea über die Grenze in die Rechtsmedizin nach Zürich gebracht wurde. Sie würden sie dort aufschneiden, hatte sie geheult und getobt. Ihr Herz schlüge noch und ihr Lebensfunke sei nicht erloschen. Dort würden sie das Kind umbringen.
Wahrscheinlich war sie sogar ein oder mehrere Male in Zürich gewesen. Hierzu schwieg Topsannah. Die Angestellten der Rechtsmedizin meinten, sich an eine abgerissene Gestalt zu erinnern. Aber in Zürich gab es viele Obdachlose und exotisch gekleidete Drogenabhängige, da war Topsannah nur eine unter vielen seltsamen Gestalten.
Es war unmöglich, Sacajawea zu sehen, geschweige denn, sie zu retten.
Topsannah versank in tagelanges Brüten. Sie aß und trank kaum noch und Adler hoffte, dass sie nun endlich eine echte Trauer um ihr Kind begänne und sie ein Stück weit loslassen könne.
Sie jedoch sann Tag und Nacht auf Rache. Ihre ganze Wut richtete sich mittlerweile auf Professor Hoffmann, der den Schlaf ihrer Tochter gestört und sie brutal aus ihrem Sandbett herausgerissen hatte. Ihn wollte sie strafen.
Ein Museum ist nicht die Gerichtsmedizin. Hier stehen alle Türen offen, Gäste sind stets willkommen. Topsannah löste lediglich eine Eintrittskarte.
Es war nicht schwer herauszufinden, in welchem Gebäudetrakt Hoffmanns Büro lag. Es war auch nicht schwer, den Schlüssel von Özdemirs Reinigungswagen zu nehmen. Er war nämlich vollauf damit beschäftigt gewesen, das Büro der Löble zu putzen.
Topsannah war mit leeren Händen gekommen. Zur Not hätte sie es wohl auf einen Kampf ankommen lassen. Die tödliche Waffe, das Steinzeitbeil, fand sie in dem Durcheinander auf einem Tischchen direkt
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