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August

August

Titel: August Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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August
    A ugust erinnert sich: Er war wie jedes der Kinder, die bei Kriegsende ohne Eltern auf der Bahnstation in Mecklenburg ankamen, befragt worden, wann und wo er seine Mutter verloren hatte. Aber das wußte er ja nicht. Ob der Bombenangriff auf den Flüchtlingszug vor oder nach der Fahrt über den großen Fluß erfolgt war, den sie die Oder nannten. Auch das wußte er nicht. Er hatte ja geschlafen. Als der schreckliche Krach anfing und die Leute schrien, hat eine fremde Frau, nicht seine Mutter, ihn am Arm gepackt und aus dem Zug gerissen. Er hat sich hinter die Böschung in den Schnee geworfen und ist liegengeblieben, bis der Lärm aufhörte und bis der Zugführer schrie, alle, die noch lebten, sollten sofort einsteigen. August hat weder seine Mutter noch diese fremde Frau je wiedergesehen. Ja, da lagen Leute über das Feld verstreut, die nicht in den Zug eingestiegen sind, der dann bald weiterfuhr.
    Und sein Vater? August fand die Frau vom Roten Kreuz nicht schön, grauhaarig, ein faltiges Gesicht, sehr müde, das merkte er daran, wie sie sprach. Sein Vater war Soldat. Mehr sagte ihr August nicht. Seine Mutter hatte den Brief, der neulich angekommen war, in ihrer Hand zerknüllt, sie hatte ihn dann wieder glattgestrichen, sie hatte geweint, er lebt, hatte sie gesagt, er lebt, ich weiß es. Und auch Frau Niedlich, die Nachbarin, hatte gesagt: Vermißt ist nicht tot. Aber das erzählte August der Frau vom Roten Kreuz nicht. Sein Vater, den er kaum kannte, lebte und würde ihn suchen, ihn und die Mutter, die er verloren hat
te und die nicht aufhören würde, ihn zu suchen, bis sie ihn gefunden hatte. Seinen Geburtstag konnte er der Frau sagen, das hatte die Mutter mit ihm eingeübt, für alle Fälle. Er war also gerade acht geworden. Und auch den Namen seines Dorfes wußte er. Ach, Ostpreußen, sagte die Frau. Da kommst du ja von weit her. Und dann hängte sie ihm eine Pappkarte um, auf der stand »Waise« und was er der Frau von sich erzählt hatte. August sieht das Pappkärtchen vor sich, das er lange aufgehoben hat.
    Dann kam er also in das nächste Zimmer zu einem Arzt, der war genauso müde wie die Frau vom Roten Kreuz, der untersuchte ihn, hörte ihn lange ab und sagte dann: Das Übliche. So kam er in das Schloß, das sich Krankenhaus nannte, in dem alle Insassen eine einzige Krankheit hatten, »die Motten«, und in dem er lange war. Einen Sommer lang, einen Herbst und einen Winter. Die Jahreszeiten kannte er, nur waren sie hier anders als in seinem Dorf, nicht so schön.
    August kannte das Wort »Heimweh« nicht, und es fällt ihm auch jetzt nicht ein, mehr als sechzig Jahre später, während er an die Jahreszeiten in seinem Dorf denkt und konzentriert und zuverlässig den großen Reisebus von Prag zurück nach Hause steuert. Das ist eine seiner letzten Fahrten, er hat das Rentenalter erreicht, und immer häufiger begleiten ihn, so empfindet er es, Bilder aus seinem Dorf, das er nie wiedergesehen hat. Andere, die er kennt, sind immer wieder in ihre alte Heimat gefahren, er brauchte das nicht, er sieht, was er sehen will: den Holunderbusch, der sich an die eine steinrote Hauswand klammert, das riesige, leicht wellige, sonnengelbe Getreidefeld. Die Massen von blauen Kornblumen und rotem
Klatschmohn an seinen Rändern. Die wechselnden Formen der Wolken am tiefblauen Himmel. Die Pumpe vor ihrem Haus. Und immer ist Sommer.
    Das Krankenhaus nannten die Leute aus dem Dorf immer noch »Schloß«, aber die Patienten nannten es nur »die Mottenburg«. Die Schloßbewohner waren geflohen, vor den Russen, sagten die Leute, und da nach dem Krieg jedermann Tuberkulose hatte, sagte die Oberschwester, mußten sie solche ungeeigneten Häuser behelfsmäßig zu Krankenhäusern machen. Aber das Personal, das sie eigentlich dafür brauchten, könnten sie auch nicht herbeizaubern, sagte die Oberschwester. Sie war rundlich, aber sehr flink und hatte ihre Augen überall. August merkte nicht, daß sie zu wenig Personal hatten, er lag im Männersaal, der Schwester Erika unterstand, und die hatte ihre Patienten dazu erzogen, vieles selbst zu machen. Schließlich seien die meisten ja nicht bettlägerig. Also konnten sie sich selbst waschen, ihre Betten machen, manchmal auch den Boden fegen. Also das hatte noch keinem geschadet. Schwester Erika hatte ein eckiges Gesicht, eingefallene Wangen und lauter kleine Löckchen auf dem Kopf. Alles Natur, sagte sie. August dachte, sie hätte irgendeinen Kummer, den sie niemandem erzählen wollte,

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