Die volle Wahrheit
wol ten, damit sie sich besser fühlten. Dazu schien es nötig zu
sein, ihnen das Fel zu färben und zu schwören, sie seit mindestens zwei
Jahren zu besitzen.
William näherte sich jemandem, der nicht mit irgendwelchen krimi-
nel en Aktivitäten beschäftigt war.
»Entsch…«, begann er, aber die Augen des Bürgers hatten das Notiz-
buch entdeckt.
»Ich habe al es gesehen«, sagte er.
»Tatsächlich?«
»Es war ein schreck-licher Anblick«, sagte der Mann mit Diktierge-
schwindigkeit. »Aber der Wäch-ter machte einen todes-verachtenden
Sprung, um die Alte zu ret-ten, und er ver-dient eine Me-daille.«
»Wirklich?«, fragte William und schrieb schnell. »Und du bist…«
»Sa-muel Arblaster, 43, Steinmetz, Rennerei Nummer elf«, sagte der
Mann.
»Ich hab’s ebenfal s gesehen«, sagte eine neben dem Mann stehende
Frau mit Nachdruck. »Frau Florrie Perry, Mutter von drei Kindern,
Tolle Schwestern. Es war ein wüstes Durch-einander.«
William riskierte einen Blick auf seinen Stift. Er war eine Art Zauber-stab.
»Wo ist der Ikonograph?«, fragte Frau Perry und sah sich hoffnungs-
voll um.
»Äh… noch nicht hier«, sagte William.
»Oh.« Sie wirkte enttäuscht. »Schade um die arme Frau mit der
Schlange. Ich vermute, er fertigt Bilder von ihr an.«
»Äh… ich hoffe nicht«, sagte William.
Es war ein langer Nachmittag. Ein Fass war in einen Friseurladen ge-
rollt und dort geplatzt. Einige Leute von der Brauerei erschienen, und
es kam zu Auseinandersetzungen mit den neuen Besitzern der Fässer,
die Bergungslohn beanspruchten. Ein unternehmungslustiger Mann
hatte ein Fass am Straßenrand angezapft und eine Kneipe improvisiert.
Otto traf ein. Er machte Bilder von den Bierfass-Rettern. Er machte
Bilder vom Kampf. Er machte Bilder von den Wächtern, als sie al e
verhafteten, die noch auf den Beinen standen. Er machte Bilder von der
weißhaarigen Alten, dem stolzen Hauptmann Karotte und in seiner
Aufregung auch vom eigenen Daumen.
Es war eine ziemlich gute Geschichte, und William hatte seinen Teil
davon im Büro der Times zur Hälfte niedergeschrieben, als ihm plötzlich etwas einfiel.
Er hatte beobachtet, wie al es geschah. Und er hatte sein Notizbuch hervorgeholt. Das sei besorgniserregend, teilte er Sacharissa mit.
»Warum denn?«, fragte sie von ihrer Seite des Schreibtischs. »Mit wie
vielen ls schreibt man ›galant‹?«
»Eins genügt«, sagte William. »Ich meine, ich habe nicht einmal ver-
sucht, in das Geschehen einzugreifen. Ich dachte nur: Dies müssen wir in der Zeitung bringen.«
»Ja«, meinte Sacharissa und beugte sich über ihren Text. »Wir sind auf
ganz besondere Art unter Druck geraten.«
»Aber…«
»Sieh die Sache einmal so«, sagte Sacharissa und begann mit einer
neuen Seite. »Manche Leute sind Helden. Andere schreiben Dinge auf.«
»Ja, aber das ist nicht sehr…«
Sacharissa hob den Kopf, sah William an und lächelte. »Manchmal
handelt es sich um die gleiche Person.«
Diesmal senkte William bescheiden den Blick.
»Hältst du das wirklich für wahr?«, fragte er.
Sacharissa zuckte mit den Schultern. »Ob ich es wirklich für wahr hal-
te? Wer weiß? Dies ist eine Zeitung. Es braucht nur bis morgen wahr zu
sein.«
William glaubte zu spüren, wie es wärmer wurde. Sacharissas Lächeln
war sehr attraktiv. »Bist du… sicher?«
»Oh, ja. Wahr bis morgen – das genügt mir.«
Und hinter ihr wartete der große schwarze Vampir der Druckerpresse
darauf, gefüttert zu werden. In finsterer Nacht wol te sie zum Leben
erweckt werden, für das Licht des Morgens. Sie zerhackte die Komple-
xitäten der Welt in kleine Geschichten, und sie war immer hungrig.
Und sie brauchte einen zweispaltigen Artikel für die zweite Seite, er-
innerte sich William.
Und einige Zentimeter unter seiner Hand fraß sich ein Holzwurm zufrieden durch das alte Holz. Die Reinkarnation findet an einem Scherz ebenso großen Gefal en wie die nächste philosophische Hypothese. Beim Kauen dachte der Holzwurm: »Dies ist …t gutes Holz!«
Denn nichts muss für immer wahr sein. Nur lange genug, um die Wahrheit zu erzählen.
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