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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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der Gruppe anzuschließen, hatte sie sich nichts auf der Welt lieber gewünscht – so sehr, daß sie die Gruppe in einem verzweifelten Akt der Besitzergreifung verinnerlicht hatte. Sie hatte heimlich einen blauen Faltenrock genäht, ein Paar blaue Socken gekauft und ein Paar alte Kunstlederschuhe in Stepschuhe mit schwarzen Bändern und Metallkappen an Hacken und Spitzen verwandelt. Sie hatte ihr aufgespartes Taschengeld für einen Mausketier-Rollkragenpullover ausgegeben; die größte Größe, die es gab, aber immer noch viel zu eng. Das Ding war heute irgendwo auf der Erde in einem Karton verstaut, mit den Jahren vergilbt, aber immer noch mit der Aufschrift PATSY in großen Buchstaben. Als großes, tolpatschiges Mädchen war sie sogar mühsam herumgehüpft und hatte sich im Steptanz versucht. Wenn irgendein Mensch verstand, welchen Zauber der Besitz dieser Sachen und der Auftritt in ihnen ausüben konnte, dann war es Pat (alias PATSY) Livingston.
    Aber das war ihre Privatsache; niemand sonst wußte davon. Wenn es jemand in der Schule herausgefunden hätte, dann wäre es ihr so peinlich gewesen wie einem dreizehnjährigen Jungen, den man mit Make-up und Unterwäsche seiner Mutter erwischt hätte.
    Wenn Aliens auf diese Kombination von Sehnsucht und Verzweiflung genauso reagierten wie Menschen, dann mußten sie den Menschen ähnlicher sein als jede andere evolutionäre Entwicklungslinie auf der Erde.
    Im Grunde wirkte die Existenz dieser Reaktion sogar noch bedrohlicher, als ihr Fehlen gewirkt hätte. Marshall Dillons sechsschüssige Kanone konnte man wenigstens sehen.
    Pat hatte mehrere Jahrzehnte nicht mehr über ihre Mausketier-Verrücktheit und die zu ihr gehörenden Gefühle nachgedacht. Sie wühlte nervös im Bett herum, bis es leise an der Tür klopfte. Sie rollte sich aus dem Bett, streifte ihr Nachthemd über und blinzelte ins Licht auf dem Flur hinaus. »Hallo, Gordon. Du kannst wohl auch nicht schlafen, was?«
    »Darf ich reinkommen?«
    Pat trat zurück, und er schlurfte an ihr vorbei. Mit ihm zusammen wurde es in ihrer winzigen, provisorischen Behausung eng. Sie schaltete das Licht ein und betrachtete seinen zerknitterten Schlafanzug, seinen Morgenmantel und seine großen, verstörten Augen. Er erwiderte ihren Blick einen Moment lang, doch dann wich er ihr aus. Kein Interesse an Höflichkeit. »Meine Güte, du siehst schrecklich aus!«
    »Kein Wunder.« Er rieb unschlüssig sein Gesicht; sie hörte Stoppeln kratzen. »Patsy, kannst du mir einen großen Gefallen tun? Ich möchte zu dir ins Bett kriechen.«
    Pat sperrte den Mund auf. Die Bitte kam so unerwartet, daß sie ein paar Sekunden brauchte, bis sie verstand, was er gesagt hatte. Der Gedanke, mit ihrem Chef das Bett zu teilen, stieß sie zwar nicht direkt ab, aber besonders appetitlich fand sie ihn auch nicht. Auf der anderen Seite bekamen Frauen ihres Alters so selten derartige Anträge, daß es nur klug schien, lieber zweimal nachzudenken, ehe sie ablehnte. Während sie noch überlegte, nahm Gordon ihr völlig den Wind aus den Segeln, indem er mürrisch erklärte: »Das hat nichts mit dir zu tun, ich muß mich einfach nur an jemand festhalten, weil ich sonst auseinanderfliege, und die anderen wagte ich nicht zu fragen. Ich hätte auch dich nicht gefragt, wenn ich nicht so verzweifelt wäre.« Er starrte Pat in ohnmächtiger Wut an. »Ich kann kein Schlafmittel nehmen, weil ich früh aufstehen und völlig klar sein muß. Verdammt, Patsy …«
    »Jaja, schon gut, natürlich. Und jetzt halt den Mund! Steig rein! Ich verstehe.« Und sie verstand wirklich, mehr oder weniger, oder glaubte es wenigstens. Komisch, sie fühlte sich gleichzeitig erleichtert und abgewimmelt.
    Gordon schob die Decken zurück und kroch ins Bett. Er stöhnte wie eine fohlende Stute. Pat schaltete das Licht aus und legte sich neben ihn. Sie hatten ihre Nachtkleider nicht abgelegt, aber Pat hielt ihn trotz des störenden Stoffs so fest wie möglich. Er roch nach Angstschweiß, scharf und abgestanden. Später drehte sie sich mit dem Rücken zu Gordon, und er legte seinen schweren Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich. Er drückte sein Gesicht in ihr krauses graues Haar. Er zitterte heftig. »Mein Gott«, seufzte er. »Ich hatte noch nie im Leben solche Angst.«
     
    Das Beiboot setzte mit drei Landestützen auf und wirbelte den rötlichen Staub hoch – es war ein Landeboot, kein Sternenschiff. Das Mutterschiff umkreiste seit dem vergangenen Abend den Planeten auf einer Parkbahn.

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