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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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war, zog sich das Geschöpf zurück und gab den Blick auf die Gruppe hinter ihm frei. Cubby und Karen begannen ihr Lebewohl zu singen – und diesmal lautete das Wort wirklich ›Lebewohl‹. Jimmie, unmoduliert wie immer, versprach, daß man sich bald sehen werde. Dann wurde der Schirm dunkel.
     
    Nach einer Konferenz mit Houston berief Gordon ein Treffen aller Mitarbeiter der Biosphäre ein. Das war nicht zu umgehen, aber weil die Mausketiere ihm schreckliche Angst machten, begann das Treffen unter ungünstigen Vorzeichen. Gordon war ausgebildeter Hydraulikingenieur und teils wegen seiner Fähigkeiten und zum größeren Teil aus Versehen Stationsleiter geworden. Er war kein Militärkopf und besaß keine große Phantasie, es sei denn, es ging in seinem erlernten Beruf darum, den Lauf von Wasser zu verändern. Wahrscheinlich wäre er mit einem Erstkontakt, der etwas konventioneller verlaufen wäre, gut zurechtgekommen, aber die Disney-Version warf ihn aus dem Gleichgewicht.
    Die teilweise Lähmung ihres Chefs machte es den anderen zunächst schwer, zu verstehen, was überhaupt passiert war, und es gab viel Verwirrung und Angst. Daheim auf der Erde hätten einige von ihnen diese Entwicklung begrüßt; hier draußen aber waren sie zu wenige. Sie fühlten sich verletzlich.
    »Glücklicherweise haben wir eine Expertin für den Mickymaus-Club an Bord. Ich habe sie gebeten, sich zu überlegen, was die Außerirdischen uns mit ihrem Auftritt als Mausketiere wohl sagen wollen«, schloß Gordon und grinste gehässig.
    Die Mitarbeiter hatten sich in der Kantine versammelt, dem einzigen Raum, der groß genug war, um sie alle aufzunehmen. Sie hätten auch über Sichtschirme oder sogar telefonisch konferieren können, aber sie wollten beisammen sein. Mit einem Gefühl, als wäre sie auf einer Stadtratssitzung, stand Pat auf und wandte sich an ihre Mitbürger: »Ich sage euch jetzt, was ich weiß, aber ihr müßt mir helfen, die Bedeutung zu ergründen, weil ich in dieser Hinsicht keine Vorstellung habe.
    Der Mickymaus-Club war eine sehr kluge Idee von Walt Disney, auf die er in seiner schöpferischsten Phase kam; oder besser, in seiner zweiten schöpferischen Phase. Disney hat seine besten Filme immer anhand ähnlicher Leitlinien entwickelt. Man nehme ein Kind mit bösen oder abwesenden oder ganz ohne Eltern – einen emotionalen Waisen. Man gebe ihm mindestens ein Ersatzelternteil, in jeder Hinsicht besser als die wirklichen Eltern. Dann wird das Verhältnis zwischen Kind und Ersatzeltern durch verschiedene Hindernisse und Mißverständnisse getrübt. Eine Weile geht es allen schlecht, aber schließlich finden die Ersatzeltern und ihr Waisenkind zusammen.
    In manchen Filmen wird an Stelle der Ersatzeltern oder zusätzlich ein Tier eingeführt – ein Hund, ein Pferd, ein Lamm oder so; aber das Strickmuster von emotionaler Entbehrung am Anfang und emotionaler Erfüllung am Ende, mit Kampf und Leiden dazwischen, ist immer dasselbe. Ein wichtiger Teil von Disneys Genialität war sein Wissen um den fundamentalen Mythos eines Kindes, das die Eltern seiner Träume bekommt; Eltern, die es um seiner selbst willen verstehen, akzeptieren und lieben, genauso, wie es ist.«
    Bill Nash sagte: »Wurden die klassischen Disney-Trickfilme nicht genauso entworfen? Aschenputtel war ein emotional vernachlässigtes Kind, Schneewittchen auch. Beide hatten böse Stiefmütter. Immer dasselbe Strickmuster.«
    Pat überlegte. »Ja und nein. Aschenputtel und Schneewittchen waren eigentlich keine Kinder mehr. Die mythische Kraft, die sie rettete, kam nicht in Gestalt guter Eltern, sondern als schöner Prinz.
    Wie auch immer, der Mickymaus-Club war eine verkürzte Fernsehversion dieses Mythos. Eine Gruppe völlig glücklicher, normaler Kinder, die singen und tanzen konnten, wurden rekrutiert und bekamen eine Art Pfadfinderoffizier, der sie anführte, ihnen half und sie viele Dinge lehrte. Das war Jimmie Dodd.«
    »Jimmie!« rief Gordon, der fast aus dem Stuhl gefallen wäre.
    ›Jimmie‹ bekräftigte Pat mit einem Nicken. »Ohne ihn wäre die Show nur die Hälfte wert gewesen. Er lieferte den … den spirituellen Unterbau … von mir aus auch die Grundlage oder den Realitätsbezug der Show. Er war der fleischgewordene Mythos. Die Show war nämlich teilweise ziemlich billig. Die Kinder mußten zum Beispiel die ganze Zeit so breit wie möglich lächeln und jubeln und herumhüpfen wie Flöhe – und ihre Mütter waren eifersüchtig und besitzergreifend wie

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